Lehrstück Deutschland
Lös Geht’s – We want you for Revolution, so der Titel des Stückes, das von Liliana Bosch in Konstanz (K9) und Kreuzlingen (Horst Klub) inszeniert wurde. Finanzkrise, Klimakrise, Flüchtlingskrise, Regierungskrise, Europakrise, Globale Krise – so die Themen der Vorankündigung. Ist das nicht ein bisschen zu viel für eine Inszenierung? Im Gegenteil! Das Stück überzeugte sein Publikum auf ganzer Linie.
Auf einer dunklen Bühne stehen zwei Figuren mit dem Rücken zum Publikum. Mann und Frau, schwarz gekleidet. Es sind Georg (Gabriel Stohler) und Kim (Marisa Wojtkowiak), wie man im Laufe des Stückes erfahren wird. Georg ist Anfang 30, Schriftsteller, und beschäftigt sich intensiv mit dem Weltgeschehen. Er will etwas verändern. Dabei entwickelt er neurotische Verschwörungstheorien und eine leichte Hypochondrie. Kim ist Anfang 20, Barkeeperin und Boxerin, ein toughes Girl mit Migrationshintergrund. Beide kapseln sich ab von der Welt, in der sie leben, flüchten in Traumwelten. Georg mit Computerspielen, Kim mit Drogen und Partys. Auf der Bühne breiten sich zwischen ihnen rote Kabel aus, sie führen zu Lampen und Steckdosensystemen. Womit wir beim Thema des ersten Aktes wären: Das System.
Level 1: Das System
Unverhofft werden die beiden Protagonisten in eine Fernsehshow geworfen, auf einmal ertönt eine Stimme aus dem Off (Liliana Bosch). Schweinwerfer leuchten ins Publikum, es wird zum Zuschauer, wie in einer Realitysendung. Die Stimme nennt sich selbst „Lös Ung“ und klingt mechanisch wie die Ansage einer Telefonhotline. Das Spiel beginnt. Georg und Kim müssen politische Begriffe definieren und persönliche Erfahrungen offenlegen. Die Zeit läuft, es gibt nur einen Gewinner. Der Stressfaktor für die beiden Kandidaten steigt. Sie werden zu Gegnern, ihre persönlichen Geschichten werden ausgeweidet und offengelegt, bis die Nerven blank liegen. In verschiedenen Etappen geht es über eine Quizshow zu einer Herzblattfolge, über Schlammcatchen zu Wahrheit oder Pflicht. Wie im echten Fernsehen eben. Unterbrochen wird die Haupterzählung der Show auf der Bühne durch Szenen aus der Lebenswelt der Protagonisten. Diese bieten Einblick in den Alltag eines affenwitzigen Youtuberpärchens, der chinesischen Nachbarin von Georg, ins Frühstücksfernsehen, die schöne Welt der Volksmusik sowie Werbeunterbrechungen.
Level 2: Der Sündenbock
Aufgezeigt werden die Themen der Generation, der die Kunstfiguren Georg und Kim entspringen: Flüchtlingskrise, Klimakrise, Rechtsruck, Nahrungsmittelproduktion, Mietpreiserhöhungen, Social Credits, bedingungsloses Grundeinkommen und einiges mehr. Klingt too much? Könnte man meinen, aber dem Theaterkollektiv gelingt es mit Bravour, diese Themendichte in eine stringente Geschichte zu verweben, ohne dabei den roten Faden zu verlieren, der sich durch das Stück nicht nur in Form des Bühnenbildes zieht. Es werden Faktoren aufgezeigt, die als Ursache allen Übels fungieren könnten. Was aber bei diesem wilden Ritt durch das gesellschaftliche Unbewusste deutlich wird, ist, dass die Antwort auf die Frage, was denn zur Zeit falsch läuft, von solcher Komplexheit ist, dass eine einfache Formulierung unmöglich wird. Mit Kommentaren, die gleichermaßen vor Zynismus und Komik triefen, werden Zustände und Situationen unserer derzeitigen Gesellschaft beschrieben: „Die Flüchtlinge vergewaltigen also mit ihren Gummibooten das Mittelmeer? Na dann Petri Heil!“
Level 3: Die Revolution
Als Lösung für die beiden Kandidaten, für die Gesellschaft im Allgemeinen, wird die Revolution zum Postulat. Doch wie geht man an diese Utopie heran? Wo beginnen? So fragt es sich Georg, wenn er über den Nahrungsmittelkonsum reflektiert: Kein Fleisch, lieber Soja. Dann aber wird der Regenwald abgeholzt, dann halt Gemüse, bedeutet Pestizide und CO2-Bilanz, regional, genauso beschissene CO2-Bilanz, saisonal, bleibt nicht viel über, Fazit: Am besten bringt man sich einfach um, damit wäre das geringste Übel für die Weltbevölkerung erzielt. Kim hingegen kämpft mit anderen Schuldgefühlen. Sie verdrängt eine Vergewaltigung im Vollrausch, für die sie sich selbst die Verantwortung zuschreibt. Der Rock zu kurz, der Pegel zu hoch, das Nein zu leise.
Im Laufe der Show kommen sich Kim und Georg näher, es entwickelt sich aber (zum Glück) keine romantische Liebesgeschichte, die dann als Er-Lösung präsentiert wird, nein, die Botschaft ist viel schlichter und damit eindringlicher, weil realistisch: Es geht um die Begegnung, um Kommunikation, um die Wahrnehmung des Gegenübers. Es geht um die innere Revolution, mit der wir beginnen können. Gleich jetzt. Das rettet zwar nicht die Welt, aber vielleicht einen simplen Moment. Derer viele, ist eine Weltveränderung dann wieder realistisch – wie es ganz zu Beginn des Stückes erklärt wird: Eine Kiste in einer Kiste in einer Kiste ist: ein System.
Mit diesem Regiedebut bringt Liliana Bosch ein beeindruckendes Lehrstück auf die Bühne, das die Frage nach deutscher Leitkultur aufwirft. Schwarz, rot, gelb ist das, was gezeigt wird (schwarz die Bühne, rot die Kabel und Kisten, gelb die Requisiten). Das Stück ist in Improvisationsszenen entstanden, gemeinsam mit Marisa Wojtkowiak und Gabriel Stohler. Vielleicht ist es der daraus resultierenden Authentizität geschuldet, dass bei der Inszenierung eine derartige schauspielerische Hochleistung von allen Beteiligten geboten wurde. Wojtkowiak sprang mit einer Bravour zwischen Partygirl, Heimatmusikerin, Schlägertussi und kinderschlagender Chinesin und wechselte nicht nur ihre Mimik entsprechend, sondern auch Akzente und Dialekte mit Präzision. Stohlers Figuren des frustrierten Influencers, des Schweizer Klimaexperten und des notgeilen Volksmusikanten hatten allesamt eine Tragik, die Tiefe zeigte, ohne pathetisch zu werden.
Und Bosch selbst, während des gesamten Stückes unsichtbar und nur akustisch wahrzunehmen, präsentierte die Facetten ihrer umwerfenden Stimme – von nervenaufreibend stressig bis sinnlich melodisch – ganz wunderbar! We want you for more revolution!
Veronika Fischer (Foto: Agata Guevara)