Liebe, Glaube, Totschlag
Donnerstagabend war es so weit: Die Oper „La Juive“ wurde in Konstanz an gleich drei Spielstätten aufgeführt. Die Macher hatten sich viel einfallen lassen, das Werk des Komponisten Jacques Fromental Halévy und des Librettisten Eugène Scribe an die musikalisch und räumlich beengten Konstanzer Möglichkeiten anzupassen und einen Sinnbezug zur Gegenwart herzustellen. Eine ganz große romantische Oper des 19. Jahrhunderts als Steinbruch für eine eher kantige Kammeroper – funktioniert das?
Ich weiß ja, Sie lesen nichts lieber als Verrisse, in denen es von einfallsreichen Schmähungen nur so wimmelt: Ein „Salonorchester wie aus einem bankrotten Provinzbordell“ oder „der Sänger war voll wie bei einer Witwenverbrennung“ verschafft Ihnen als echtem Musikfreund gleich einen hervorglänzenden Tag, obwohl Ihnen ein Wochenende im Kreise Ihrer Liebsten droht. Ich versichere Ihnen ehrenwörtlich, nichts schriebe ich lieber als das (und nichts ginge mir leichter von der Hand).
Aber das bringe selbst ich in diesem Fall nicht übers Herz.
Die Konstanzer Version von „La Juive“ ist ganz große Musik plus ganz großes Theater – sie ist tatsächlich „Grand opéra“ mit allen Schikanen, richtig spannend und gut gemacht von der ersten bis zur letzten Minute. Das sind dreieinhalb Stunden Musiktheater, wie es das in dieser Stadt so schnell nicht wieder geben wird.
Liebe und Tod
Die Geschichte, angesiedelt beim Konstanzer Konzil, ist bekanntlich herzzerreißend: Sie handelt von Vater und Tochter, von Juden und Christen, von Glaubensgewissheit und Intoleranz, von enttäuschter Liebe und Ehebruch, von Verzweiflung und Prunksucht, von echter Liebe und Scham, von Katholizismus und Antisemitismus.
Sie handelt also von all jenen Gefühlen, die die geliebte Bestie Mensch zum Daseinskampf motivieren – zumindest auf der Opernbühne, bis zu der sich die eigentliche menschliche Tragödie noch nicht rumgesprochen hat, die da ist die Zermalmung des realen Menschen durch jahrzehntelange zermürbende Lohnarbeit für zumeist geistig mediokre und emotional eiskalte Ausbeuter. Das alles ist aber „La Juive“ nicht vorzuwerfen, denn sie ist von 1835, also etliche Jahre vor dem „Kommunistischen Manifest“, und damals konnte man so etwas noch nicht wissen. Sie darf ganz natürlich große Oper sein, geschult an antiken Vorbildern, und sich als historischer Folie eines weitgehend fiktiven Konstanzer Konzils bedienen.
Liebe macht blind
Antreiber der Handlung ist die komplett opernhafte Tragödie einer heftigen Liebe zwischen der Jüdin Rachel und einem armen Juden, der aber (wie Rachel anfangs nicht weiß) in Wirklichkeit der christliche Reichsfürst Léopold ist, ein noch dazu mit einer Prinzessin verheirateter Mann und siegesverwöhnter Hussiten-Schlächter. Rachel, ihr Vater Eléazar und selbst Reichsfürst Léopold werden für diese wegen der Überschreitung der Religionsgrenzen verbotene jüdisch-christliche Beziehung zum Tode verurteilt.
Léopold wird letztlich unter Rachels Mithilfe begnadigt, Rachel und Eléazar hingegen werden hingerichtet, oder genauer: In Konstanz gehen sie in einen eindrucksvoll inszenierten Tod. Der ebenfalls in die Angelegenheit involvierte Kardinal Brogny, der viele Jahre zuvor in Rom aus purem Antisemitismus Eléazars Kinder hatte töten lassen, erfährt erst Sekunden nach Rachels Ende, dass diese vermeintliche Jüdin in Wirklichkeit seine seit langem vermisste Tochter war. Eine wichtige Rolle spielen übrigens auch die Konstanzer*innen unter ihrem Stadtvogt Ruggiero, die offen antisemitisch eingestellt sind.
Eine Aufführung für Wanderratten
Durch die Aufteilung an drei Schauplätze zerfällt das Werk in sehr unterschiedliche Abschnitte. Allen ist eins gemeinsam: Es gibt nur spartanischste Bühnendekorationen, ein wenig Baugerüst oder ein paar stoffbezogene Würfel etwa, und das war’s. Man hat also gar nicht erst versucht, die riesenhaften dekorativen Verhältnisse der Pariser Oper in Konstanz nachzuahmen.
Das alles hat Werkstattcharakter, es ist keine Illusion wie auf einer echten Opernbühne, sondern das Publikum erlebt vor allem die Sänger*innen hautnah bei ihrer Kunst, die erkennbar auch harte Arbeit ist. Die pure Nähe auf wenige Armlängen schafft eine direkte emotionale Bindung an das Geschehen, die in einem großen Opernhaus nicht möglich ist, wo Tausende in einen Guckkasten schauen, den sie oft nur per Opernglas halbwegs anvisieren können. Die Abfolge der Spielorte in Konstanz ist zudem geschickt gewählt: Eng und intim der erste im Freien hinter dem Turm am Kulturzentrum, schon etwas weitläufiger das Sankt Johann und richtig groß (und hallig) dann das Finale in der Lutherkirche.
Man ist gefangen
Die Wahrnehmung der einzelnen Orte verändert sich aber auch durch etwas anderes: An den ersten beiden Spielorten agiert das Orchester hinter den Sänger*innen, einzig in der Lutherkirche sitzt es davor, wie man es ja traditionell von der Oper gewöhnt ist. Die Nähe auf wenige Meter und der Primat der Sänger*innen und ihrer auch schauspielerisch hervorragenden Leistungen an den ersten beiden Spielorten zieht direkter in den Bann als die „traditionelle“ Situation in der Lutherkirche mit einem größeren Abstand des Publikums zum Geschehen.
Das Fazit: Experiment gewagt, Experiment gelungen, die Grenze zwischen Bühne und Publikum ist weitgehend eingerissen, das Spiel ist nicht Schau, sondern wird hautnah erlebt und damit (vermeintlich) wahrhaftig. In diesem intimen Rahmen erwies sich die Bearbeitung für ein kleines Orchester samt Akkordeon und E-Gitarre als kongenial, auch wenn Einsätze gelegentlich klapperten, aber so ist Oper nun einmal. Die Leistungen des Gesangsensembles, das gerade in Sankt Johann direkt vom Publikum umzingelt war, waren mitreißend, und der Einsatz des Chores, der sich teils unter das Publikum mischte und es von Spielstätte zu Spielstätte geleitete, souverän.
Sagt mir nicht, was ich denken soll!
Es passte so ziemlich alles: Die Musik, der Gesang, das Wetter, das Gurren der Tauben im Freien, das Glas Sekt und die Fähnchen für das Publikum im Sankt Johann, durch die das Publikum Teil der Aufführung wurde.
Was nicht passte, waren allerdings ein paar zwanghafte Deuteboldereien, die die Inszenierung dem Publikum verordnete. Der Chor war als AfD-Erstsemesterparty herausgeputzt, und der Konstanzer Stadtvogt wurde wie ein braungrüner CSU-Landrat mit NPD-Ambitionen präsentiert. Selbst an den Liedanzeigern in der Lutherkirche hingen statt der Gesangsbuchnummern für den Gottesdienst wohl alle möglichen Daten von dem der Verbrennung Jan Hus‘ über die Reichspogromnacht bis hin zum Anschlag aufs Pariser „Bataclan“.
Was soll das? Trauen die für die Inszenierung Verantwortlichen der Aussagekraft des Stücks nicht? Oder halten sie das Publikum für zu hirnverbrannt, seine eigenen Schlüsse aus dreieinhalb Stunden mitreißender Musik zu ziehen? Was soll dieses Zeigefinger-Theater? Natürlich kann niemand, zumal in Deutschland, ein solches Werk heutzutage ohne einen Gedanken an den Horror des Holocaust und den alltäglichen Neofaschismus erleben, dazu muss die Regie keine offenen Türen einrennen und das Publikum auch nicht erst wie einen jungen Hund mit der Nase in die eigene Pisse stupsen.
Ein Stück muss nur eins sein, nämlich gut, und „La Juive“ wirkt in der Konstanzer Inszenierung auch nach mehr als 180 Jahren noch quicklebendig, da bedarf es auf der Bühne keiner plakativen Querverweise. Diese Oper, in der die Liebe die gesellschaftlichen Grenzen eben nicht überwindet, sondern zur Hinrichtung von Menschen führt, wirkt natürlich, gerade nach Auschwitz, als Aufruf zu religiöser Toleranz zwischen Angehörigen verschiedener Glaubensrichtungen.
Aber ein gutes Kunstwerk ist für mehrere Deutungen offen, und so gibt es aus heutiger Perspektive ein viel näherliegendes Verständnis dieses Werkes: Jede Art von Religion ist nur ein Vorwand für die Abgrenzung von den Nachbar*innen und für deren Aussonderung aus der Gesellschaft. Religion verstellt nicht nur den Blick auf die wahren gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern ist bis heute so wie in „La Juive“ eine der wichtigsten Ursachen für Mord und Totschlag. Ohne Religion wären nicht nur die tragenden Figuren dieser Oper, sondern wir alle besser dran, und es gäbe viel weniger Tote. Nicht nur auf der Bühne.
Harald Borges (Foto © Ilja Mess Konzilstadt Konstanz)
PS: Bemerkenswert ist, mit welcher Selbstverständlichkeit einige Mitmenschen im Publikum während der Aufführung unablässig mit ihren Smartphones fotografierten. Einen diesbezüglichen Tiefpunkt gab es in der Lutherkirche, wo ein hosenscheißerischer Wichtigtuer mit erhobenem Smartphone minutenlang direkt vor der Bühne im Blickfeld der anderen Zuhörer*innen herumkroch. Es dürfte in den nächsten Jahren eine der Hauptaufgaben von Konzertveranstalter*innen werden, diesen höchst lästigen Missbrauch elektronischer Geräte bei Kulturveranstaltungen wirksam zu unterbinden.
Weitere Aufführungen: 16.06., 18.06., 20.06., 24.06., 26.06., 28.06., 01.07., 04.07., 07.07., 09.07.
Bei schlechtem Wetter komplett in der Lutherkirche. Bei unsicherem Wetter gibt es ab 15.05 Uhr unter 07531/363 27-29 Auskunft, ob im Freien oder in der Lutherkirche gespielt wird.
Karten gibt es hier.
Wärmstens zu empfehlen ist übrigens das Programmheft der Staatsoper Stuttgart, in dem auch eine deutschsprachige Übersetzung des Librettos abgedruckt ist.
Das Ensemble mit Namen und Konterfei finden Sie hier:
https://archiv.seemoz.de/kultur/scheiterhaufen-currywurst-und-schampus/
Wie schön das auch die Sänger,der Dirigent und Regisseur überhaupt nicht erwähnt worden! Ach ,das ist ja gar nicht wichtig heutzutage. Was sind schon die KÜNSTLER?niemand ! Wichtig ist der Dramaturg,oder Kritiker!