Lobet den Herrn! Vorsicht: Religiöse Propaganda

Es gibt kein Richtiges im Falschen? Geschwätz! Wenn man ein zwingendes Beispiel dafür sucht, wie jemand aus den falschen Gründen genau das Richtige getan hat, findet man es in Johann Sebastian Bachs geistlichen Werken. Seine h-moll-Messe gibt es am nächsten Wochenende in Konstanz, wo sie Claus Gunter Biegert in seinem Abschiedskonzert dirigiert.

Natürlich ist Bach (der Bach, Johann Sebastian, 1685-1750) das A&O der Musik. Aber was heißt das? Das heißt: An seine Werke für Violine und Violoncello solo reicht bis heute nichts in dieser Art auch nur annähernd heran. Ein Orgelabend auch bei den Katholischen ist ohne ein Werk von Bach, der doch zur höheren Ehre Luthers komponierte, kaum vorstellbar. Auch auf anderen Tasteninstrumenten ist er einer der Hausgötter, man denke nur an sein „Wohltemperiertes Klavier“. Eine Fuge, bei der einem vor Musikalität und Kunstfertigkeit das Maul offen steht. Ist von Bach (nur manchmal auch von Beethoven). Brandenburgische Konzerte: Trallala für einen Fürstenarsch, aber von Bach – er wusste ja noch nicht, dass 70 Jahre später auf zwölf Adelige zwölf Hälse zum Guillotinieren kommen würden. Passionsmusik? Bach. Jacques Loussier? Wendy Carlos am Synthesizer? „A Whiter Shade of Pale“? Alles zurecht vergessen, aber auch das: Bach, Bach, Bach.

Bach – ein Barockmusiker? Historisch betrachtet ja, musikalisch betrachtet nein. Wie jede Jahrhundert- oder Jahrtausendgestalt ist er zugleich ein Komponist seiner Zeit wie einer der Gegenwart. Wann auch immer man lebt. Unverwüstlich, ewig gestrig, immer modern. Mathematik und Herzensergießung, für manche Menschen gar ein Begleiter über Jahrzehnte. Er hat praktisch immer das Richtige komponiert – und oft genug aus den falschen, nämlich religiösen, Gründen. Macht das etwas? Nein. Bach verzeiht man seinen Glauben, er ist ein humanistisches Erbstück der gesamten Menschheit und war es auch immer, selbst während des Kalten Krieges.

Wahlkampf mit Bach

Mit einer Ausnahme allerdings: Und die ist Konstanz, denn da gehörte Bach scheint’s der FDP. Um 1980 stand ich mit ein Paar Bach-Noten unter dem Arm an der Bushaltestelle am Zähringerplatz, als eine etwas pferdegesichtige FDP-Wahlkämpferin auf mich zutrat. Ich sagte ihr als höflicher Mensch, dass sich bei mir die Mühe ihrer Wahlwerbung nicht verlohne, weil ich unbelehrbar links wählen würde, egal, was sie mir auch erzähle.

Daraufhin zeigte sie auf die Noten unter meinem Arm: „Dann dürfen sie das nicht spielen. Bach ist im Osten verboten.“ Heilige Einfaltspinselei des Liberalismus. Die Noten, auf die sie zeigte, waren in Leipzig (DDR) vom Volkseigenen Betrieb Edition Peters gedruckt und eigenhändig in Ost-Berlin gekauft worden.

Singet dem Herrn ein neues Lied

Zurück von der FDP zu einer anderen Religion, jener Bachs nämlich, und jetzt wird’s ernst. Seine achtstimmigen Motetten („Singet dem Herrn ein neues Lied“) beeindrucken durch ohrenschmeichlerische Kunstfertigkeit. Man kann seinen „Actus tragicus“ (BWV 106) hören und ist ergriffen von der diesseitigen Nüchternheit, mit der hier („Es ist der alte Bund: Mensch, Du musst sterben“) der Tod verhandelt wird.

In Bachs Arbeitsvertrag in Leipzig hieß es sauertöpfisch-protestantisch, er habe die Kirchenmusik so zu gestalten, „daß sie nicht zulang währen, auch also beschaffen seyn möge, damit sie nicht opernhafftig herauskommen, sondern die Zuhörer vielmehr zur Andacht aufmuntere.“ Drauf geschissen, um es mal umgangssprachlich zu sagen. Bach setzt auch gern mal große Oper ein, etwa in der Passion nach dem Evangelisten Johannes, wenn das Volk Pontius Pilatus ankeift: „Nicht diesen, sondern Barrabam!“ Das Volk = die Juden wollen, dass Pilatus nicht Jesus, sondern den Mörder Barrabas begnadigt. Der übliche Antisemitismus des neuen Testaments – geradezu putzig gegenüber dem Antisemitismus des späten Luther, der noch schnell die Juden ausrotten wollte, ehe ihn, den beleibten Doktor der Theologie, die Würmer zu fressen kriegten. Typische christliche Nächstenliebe halt: Hau drauf, möge der Andere gefälligst die zweite Wange hinhalten.

Bach steht trotzdem darüber. Er ist menschlich. Hörbar menschlich. Ein Leben ohne Bach? Durchaus möglich für den, der niemals etwas Eingemachtes von ihm gehört hat. „Herr, unser Herrscher, dessen Ruhm In allen Landen herrlich ist!“ (2) Geistlicher Kolonialismus? Wohl kaum, Bach ist gemeinschaftsstiftend, Länder und Konfessionen – das schert ihn nicht. Sein „Erbarme Dich“ ist evangelisch, aber zum Katholischwerden. (3).

Religiöses Blendwerk

All das Hoffnungsvolle in Chorälen, Passionen und Kantaten ist religiöses Blendwerk? Ja, und wie! Aber bei Bach kommt einem dieses verführerische Naschwerk für die Seele, auch wenn man keine hat, wie ein gut gemachter Dokumentarfilm vor, der einfühlsame und vertraute musikalische Bilder für die Opfer des Daseins findet – diese Opfer sind wir schließlich selbst. Ziemlich fern und doch so nah ist das, nah in der Wirkung, fern gelegentlich in den Mitteln. Fern vielleicht auch, weil Bach als Mensch seltsam ungreifbar bleibt. Eine Art genialer Musikhandwerker, der den hochnäsigen Rat der reichen Stadt Leipzig mit Lust triezte und auch seinen fürstlichen Vertragspartnern nicht immer ein getreuer Untertan und Knecht war. Bach gehörte niemandem. Weltlich? Geistlich? Falsche Frage. Niemand hat bisher etwas hingekriegt, das seiner Chaconne (4) auch nur nahekäme. Ist das weltlich? Geistlich? Es ist menschlich, pfeift auf den Rest. Bach mit ein wenig Verstand zu hören, das heißt, einen Freund zu finden. Einen Freund wohlgemerkt, vor dem man innerlich nur knien kann.

Eine Parodie

Womit wir bei Bachs h-moll-Messe (1) wären, einem zutiefst religiösen Werk also. Sie ist eine Zusammenstellung und Überarbeitung eigener älterer Werke. Das Verfahren, philologisch „Parodie“ geheißen, eine Art Potpurri, war üblich, man recycelte damals eigene (wie auch fremde) Stücke ganz nach Bedarf. Diese Messe ist eines der letzten Werke Bachs, niemand weiß, zu welchem Zweck er sie komponiert hat – und vor allem: Es ist seine einzige Vertonung der kompletten katholischen Messe mit den fünf feststehenden Stücken der altkirchlichen Liturgie: Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Agnus Dei. Katholisch und evangelisch waren damals allerdings noch nicht so weit auseinander wie heute, das Lateinische auch bei den Lutheranern noch nicht komplett verpönt.

Die h-Moll-Messe ist die Summe von Bachs Vokalkunst. Sie ist eines der herausragendsten musikalischen Werke aller Menschen, Zeiten und Völker. Oder wie es Claus Gunter Biegert (Bild oben, hier ein Bild von 1957, Biegert ist natürlich der auf der Kiste), der evangelische Bezirkskantor und Leiter des Konstanzer Bach-Chores, formuliert: „Dieses Stück saugt alles auf, was davor war, und gibt es an die Nachfolgenden weiter.“

Next Generation

Schön waren die Zeiten 1749, als er die h-moll-Messe zusammenschusterte, für Bach nicht: Er war 64 Jahre alt und hatte zum ersten Mal im Leben mit einer schweren Krankheit zu kämpfen. Bach war bereits seit 1723 ziemlich gut bezahlter Angestellter der Stadt Leipzig, der er als selbstbewusster Thomaskantor diente. Diente? Es galt eher das alte „do ut des“: Gib‘, auf dass Dir gegeben wird, ein Geschäft eben. Neben seinen Kirchenpflichten hatte Bach auch Lateinunterricht zu erteilen (worum er sich nach Kräften drückte). Er hatte weltliche Musik zu liefern, etwa Ratswahlkantaten zum damals jährlichen Wechsel des Rates. Man stelle sich das heute mal vor: Gotteslob zur Amtserneuerung von Uli Burchardt und Klaus-Peter Kossmehl. Er leitete ein Wirtshaus-Orchester im Zimmermannischen Caffe-Hauß.

Und dann waren da noch seine Söhne, innerhalb der Bach-Family gab man ja über Jahrhunderte seine Profession weiter. Man denkt unwillkürlich an Carl Phillipp Emanuel, der auf Menzels Gemälde des Flötenkonzertes hinter Fritz dem Großen am Cembalo sitzt und zu seinen Lebzeiten seinen Vater weit überragte. Als Bach stand man (Frau weniger) immer schon in einer Tradition, auch Johann Sebastian, der diese Tradition mitnichten begründet hat, sondern auf den Schultern anderer saß.

Das passt zu diesem Anlass, denn mit der h-moll-Messe im Rahmen der jährlichen Bach-Tage verabschiedet sich Claus Gunter Biegert nach verdienstvollen 31 Jahren in den Ruhestand. Er hat mir übrigens auch verraten, warum ein bestimmter Satz der h-moll-Messe sechsstimmig ist: Weil die dort erwähnten Engel sechs Flügel hatten: Zwei zum Fliegen, zwei, um sich die Augen vor den Sünden der Menschen zu bedecken – und zwei, um sich ihre Ohren zuzuhalten, wenn gerade mal wieder irgendwo hienieden Chorprobe ist.

29. Oktober 2017 um 17.00 Uhr in der Lutherkirche und am 1. November 2017 um 17.00 Uhr in der Stephanskirche. Bach-Chor und Bach-Collegium Konstanz sowie das Solistenensemble Schola Konstanz mit Marie-Sophie Pollak, Sopran, Mechthild Bach, Sopran, Mechthild Seitz, Alt, Philipp Nicklaus, Tenor und Matthias Horn, Bass. Gesamtleitung KMD Claus Gunter Biegert. Karten im Vorverkauf bei BuchKultur Opitz, St. Stehansplatz, Tourist-Information, Bahnhofplatz sowie im Internet bei www.reservix.de

Das Gesamtprogramm der Bach-Tage 2017 findet sich hier

(1) https://www.youtube.com/watch?v=m7obnfrlP0s und https://www.youtube.com/watch?v=yvwSwxAi5_E halte ich für zwei bedeutende Aufnahmen.
(2) https://www.youtube.com/watch?v=lJWjdc0DFFI
(3) https://www.youtube.com/watch?v=BBeXF_lnj_M
(4) https://www.youtube.com/watch?v=QqA3qQMKueA

Harald Borges