Luzid und sprachmächtig – Danilo Kiš‘ „Psalm 44“

Danilo Kiš gehört zu jenen Autoren der „zweiten Moderne“, die in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Frankreich, Deutschland und anderswo die Literatur noch einmal zu revolutionieren versuchten. Er zählt sicher neben Ivo Andrić und Alexandar Tišma zu den wichtigsten jugoslawischen Autoren des 20. Jahrhunderts.

Im Alter von 25 Jahren schrieb Kiš (1935-1989) seinen Auschwitz-Roman Psalm 44, 1962 wurde er veröffentlicht, aber unverständlicherweise ist er erst kürzlich auf Deutsch erschienen. Mit dem Stalinismus setzte er sich dann in den 70er Jahren in seinem Roman Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch auseinander, der bei seinem Erscheinen einen Skandal auslöste. Psalm 44 (nach dem alttestamentarischen Buch der Psalmen) ist die Geschichte der Halbjüdin Maria, die zusammen mit ihrer Mitgefangenen Jeanne und ihrem siebenwöchigen Kind, das sie im Lager geboren hat, aus dem Lager Birkenau fliehen kann. Polja, eine weitere Leidensgenossin, müssen sie zurücklassen, sie stirbt kurz vor der Flucht elendig. Der polnische Gefangene Jakob, ein Lagerarzt, hat dafür gesorgt, dass sie von Auschwitz (wo Kiš‘ Vater, ein ungarischer Jude, umgekommen war) nach Birkenau verlegt wird, von wo die Flucht leichter sein soll. Im Hintergrund hat Max, ein weiterer Gefangener als deus ex machina die Flucht, den Zeitpunkt, zu dem sie von den Scheinwerfern unerkannt bleiben, vorbereitet. Maria findet Jakob schließlich in einem amerikanischen Militärspital wieder, in das er nach seiner eigenen Flucht verletzt verbracht worden ist. Max bleibt bis zum Schluss unsichtbar, als Maria und Jakob, die mittlerweile in Warschau leben, Auschwitz mit dem kleinen Jungen nach Jahren noch einmal besuchen, der an der Hand des hinkenden Max vor ihnen erscheint.

So weit die Handlung. Die Flucht selbst wird fast ganz am Ende kurz, aber eindringlich atemraubend geschildert. Zuvor belauscht Maria, versteckt in einem Schrank in Jakobs Stube, dessen Unterredung mit Dr. Nietzsche, dem Lagerarzt, in dem unschwer der berüchtigte Dr. Mengele zu erkennen ist. Nietzsche verlangt als Gegenleistung dafür, dass er ihn bislang verschont hat, die Sammlung von Schädeln und Skeletten zu retten, die vor der Befreiung der Lager durch die Alliierten vernichtet werden sollen – als Dienst an der Wissenschaft und seiner Rasse. Sie könnten das letzte sein, was von ihr übrigbliebe. Neben den beklemmenden Szenen vor der Flucht von Maria und Jeanne mit dem in Lumpen gewickelten Baby greift Kiš aber auch zurück in das Vorleben seiner Protagonistin. Auschwitz hatte nicht nur eine Nachgeschichte, sondern vor allem eine Vorgeschichte. Antisemitismus erfährt Maria schon als Kind, das keine Straßenbahn benutzen darf, weil die Juden Christus ans Kreuz genagelt hätten. Es folgen nach der Besetzung der Vojvodina und seiner Hauptstadt Novi Sad durch die ungarischen Faschisten, die die „Batschka“ heim ins ungarische Reich holen, Verlust der Wohnung, der bürgerlichen Rechte, Pogrome und das „Massaker von Novi Sad“ im Januar 1942, bei dem über 1200 Juden und Serben barbarisch ermordet wurden. Kiš schildert drastisch und erbarmungslos, wie Menschen bei lebendigem Leib mit Äxten und Messern erschlagen und aufgeschlitzt und ihre zerstückelten Körper, ihre abgehauenen Schädel unter das Eis der Donau geschoben wurden. Zu den Opfern gehört auch Marias Vater.

Es sind aber nicht alleine die geschilderten schrecklichen Geschehnisse lange und kurz vor Marias Flucht, der gekonnte Wechsel der verschiedenen Zeitebenen, die die literarische Qualität des Romans ausmachen, sondern wie Kiš sie erzählt. Mit spannungsgeladener Knappheit und einem Sensorium für winzigste Regungen und Eindrücke und gleichzeitige Reflexionen seiner Protagonistin, der nicht das kleinste Detail, das leiseste Geräusch und der scheueste Blick zu entgehen scheint. So kommen beinahe alle dreizehn Kapitel des Buchs für den Leser einem Bergaufstieg oder Marathonlauf gleich, nach dem er das Gefühl hat, erst einmal wieder Atem holen zu müssen.

Ilma Rakusa berichtet in ihrem Nachwort, dass Kiš den Roman nach eigenen Angaben in einem knappen Monat geschrieben habe, und zwar für einen Wettbewerb der Vereinigung jüdischer Gemeinden in Belgrad. Als Grundlage benutzte er einen Zeitungsartikel über ein Ehepaar, das irgendwann nach dem Krieg das Lager Auschwitz besucht. Die Jury des Wettbewerbs, die die Texte ohne die Namen der Autoren las, war überzeugt, dass Psalm 44 von einer Frau geschrieben worden sei. Wegen einer spezifisch „weiblichen Sensibilität“, mit der Kiš die Sorge Marias um das Neugeborene beschreibt, einer Empathie mit der Mütterlichkeit und Sorge um das Neugeborene, die man einem männlichen Autor ganz offenbar nicht zugetraut hatte. Und es mag durchaus sein, dass es zu seiner Zeit nicht viele Autoren gegeben hat, die das fertiggebracht hätten, was Danilo Kiš ganz souverän schafft: eine weibliche Romanfigur mit den Attributen von weiblicher Zugewandtheit und Sorge auszustatten. Aber warum eigentlich sollte die Fantasie eines männlichen Autors wie Kiš das nicht gekonnt haben?

Jochen Kelter (Foto: Marina Kalezić / CC BY-SA)


Danilo Kiš: Psalm 44. Aus dem Serbokroatischen von Katharina Wolf-Griesshaber, mit einem Nachwort von Ilma Rakusa. Carl Hanser Verlag 2019, 136 S., 20.- Euro, ca. 31.90 FR.