Macht die Interpretation ein Werk zum Kunstwerk?
Mit „Stillleben“ zeigt der Kunstverein Konstanz erstmals Arbeiten von Benjamin Bergmann. Der Künstler wurde bereits vielfach ausgezeichnet und ist in zahlreichen privaten und öffentlichen Sammlungen vertreten. Bergmanns Werke, vor allem Skulpturen und raumgreifende Installationen, sind noch bis zum 15. Juli im Kunstverein ausgestellt. Unser Kritiker hat sie sich angeschaut – hier seine Eindrücke.
Schon Aristoteles (384-322 v. Chr.) hielt die Wirkung eines Kunstwerks auf den Betrachter für wichtig. Damit sich eine Wirkung einstellen und der Betrachter überhaupt etwas als Kunst sehen kann, verlangt der amerikanische Philosoph Arthur C. Danto (1924-2013) gar eine Kenntnis von Kunsttheorie und Kunstgeschichte, denn „Kunst ist eine Sache, deren Existenz von Theorien abhängig ist (M. Hauskeller „Was ist Kunst“, München, 2008, S. 102).“ Solchen Anforderungen dürften nicht viele Menschen gerecht werden. Daher müssen sich wohl die meisten Besucher der noch bis 15. Juli in den Räumen des Konstanzer Kunstvereins gezeigten Arbeiten von Benjamin Bergmann (fast alle aus 2018) auf das eigene Sehen konzentrieren und das, was sie darüber hinaus in der Presseinformation lesen oder anlässlich einer Führung erfahren.
Angenehm ist, dass die Anzahl der gezeigten Arbeiten überschaubar ist – es sind neun, zählt man die drei Lampenobjekte als eine. Bergmann betitelt seine Ausstellung mit „Stillleben“, eine Kunstgattung, die eigentlich der Malerei vorbehalten ist [Darstellung toter bzw. regloser Gegenstände wie Blumen, Früchte, tote Tiere, Gläser, Instrumente etc., die der Maler im Bild zu einer Art „plastischer Einheit“ gruppiert (siehe auch „nature morte“, „natura morta“ oder „still life“)]. Für einen Bildhauer ein zwar ungewöhnlicher, aber nachvollziehbarer Titel: Schließlich sind auch seine Arbeiten von ihm organisierte ‚plastische Einheiten‘ – allerdings ohne Rahmen und in realer Plastizität.
Im schmalen Eingangsflur hängen oben an der Decke 20 Keramik-Dreiecke an Stahlseilen (19 schwarze und ein weißes; haben Anzahl und Farbgebung eine Bewandtnis?). „Leviathan“ heißt diese Arbeit. Die Vorstellung von diesem furchterregenden Seeungeheuer ist ein alter Mythos, der sich aus vorchristlicher Zeit über den jüdischen und christlichen Glauben bis in die Neuzeit erhalten hat – für Chaos, Sündhaftigkeit oder Neid genauso stehend wie für staatliche Allmacht, Unbezwingbarkeit der Finanzmärkte oder der Natur. Vielleicht karikiert diese kleinteilige Arbeit den bis heute als bedrohlich empfundenen Mythos – vielleicht auch nicht.
Drei gleichartige Objekte ähneln Wandlampen bzw. Leuchten mit je einem Arm [zwei Leuchten in schwarz (bei der einen zeigt der Arm nach oben, bei der zweiten nach unten) und eine in weiß – warum?]. Die Leuchtmittel sind genauso funktionslose Materie wie die Objekte selbst – und haben den Titel „Armleuchter“, ein umgangssprachliches Schimpfwort, das „blöder Kerl oder Dummkopf“ meint – Witz, Ironie oder Sprachspiel – wer weiß? Zudem merke ich an, dass ‚Leuchte‘ und ‚Leuchter‘ nicht bedeutungsgleich sind.
Auch bei der Arbeit „Tafelbild“ – zwei unterschiedliche große Bronzescheiben mit reliefartiger Dielenbrettmaserung – kann man den Titel mit Schmunzeln zur Kenntnis nehmen, da eine Plastik bzw. ein Relief üblicherweise nicht als Tafelbild bezeichnet werden.
Die räumlich größte Arbeit heißt „Redentore“ – als hätte eine Betonschneidemaschine vier quadratische Teile aus einer Straße herausgesägt, darin einbetoniert Eisenstangen, über Ketten miteinander verbunden sowie steinernen, deformierten Lampions daran; ich sehe hier vor allem beklemmende Erstarrung, soll aber auch an die alljährlich begangene „Festa del Redentore“ in Venedig denken, bei der des Endes der längsten Pestwelle dort im 16. Jahrhundert gedacht wird. Die als Stillleben organisierte vierteilige plastische Einheit mag ich allerdings nicht als „Überrest einer nächtlichen Party“ begreifen, wie die Presseinformation schreibt.
Die restlichen Arbeiten heißen: „Goldenes Regal“ (eine Wandhalterung mit drei leeren Regalböden aus Messing), „König Ludwig“ (mühsam erkennt man, dass wohl Ludwig II. gemeint ist – müsste also auch so heißen, oder?), „Schwarzer Mond“ (das Objekt war die ganze Woche über nicht in Funktion) und „Movimento“ (italienisch für Bewegung).
Mein Fazit: Die Ausstellung wirkt auf mich eher hermetisch geschlossen denn einladend. Der Interpretationsspielraum für Arbeiten wie „Leviathan“, „Redentore“ und vielleicht auch „König Ludwig“ ist so groß, dass ihre Materialisierungen Gefahr laufen, von ihrer jeweiligen Interpretation erdrückt zu werden. Einzig „Movimento“ konnte mich für sich einnehmen: Da führen zwei einander gegenüber postierte, auf übermannshohe Sockel aus Pressspan (m. E. zu hoch für den kleinen Ausstellungsraum) montierte dreh- und schwenkbare schwarze und schwere Lampenkörper einen von einem DMX-Player gesteuerten, sich ständig wiederholenden Dialog mit Licht und Bewegung; hier ist der Bildhauer in seinem Element, indem er die beiden Kräfte ‚Bewegung‘ und ‚Geschwindigkeit‘ wechselseitig aufeinander reagieren lässt – für mich die originellste Arbeit, die dann zwar nicht mehr zum Ausstellungstitel passt, aber das ist am Ende unerheblich.
Hans-D. Pfundtner
Stillleben. Kunstverein Konstanz – Im Kulturzentrum am Münster – Wessenbergstraße 39. Öffnungszeiten für die Ausstellung: Dienstag bis Freitag: 10–18 Uhr. Samstag und Sonntag: 10–17 Uhr.