„Mauerläufer“ – regional, radikal, randständig

seemoz-mauerlaeufer-literaturIm schon zweiten Jahr ist die Bodensee-Literaturzeitschrift „Mauerläufer“ erschienen: Regional, radikal und randständig wollen die Herausgeber um Jochen Kelter in ihren Jahres­heften sein. Was bedeutet: Weg vom Main­stream und seinen Themen, hin zu Menschen, die am Rande der Aufmerksamkeit stehen. Radikal sind die Hefte in Wortwahl wie Layout und randständig in der Wahl ihrer Schwer­punkte: Das 2014er-Heft widmete sich der Gebärden­sprache, 2015 dem Thema ‚Chaos und Ordnung‘.

Der Mauerläufer ist ein äußerst seltener Alpen-Vogel – kaum zu erspähen, noch mühsamer zu finden. So soll auch diese Literaturzeitschrift werden – mühsam zu ergründen, schwerlich zu verstehen. In die Texte der allein 46 Autoren der 2015er-Ausgabe – von Johanna Walser über Jochen Kelter bis Hermann Kinder, allesamt wohlbekannt nicht nur in der Region – muss man sich vertiefen, hineinknien, mit viel Mußezeit. Die Textlese erinnert an die wohlbekannte, immerhin im 35. Jahr erscheinende Zeitschrift „Allmende“, der jedoch die dadaistischen Elemente des Mauerläufers fehlen.

Hervorgegangen aus der Autorenrunde, die sich mehrmals im Jahr im Meersburger Alten Schloss trifft, haben im laufenden Jahr AutorInnen aus der Bodensee-Region, aus Österreich und der Schweiz im neuen Buch – denn mit 175 Seiten fast im Din-A4-Format ist das mehr als nur ein Heft – Witziges, Nachdenkliches, aber immer Originelles publiziert: „Belgrad ist wie jedes beliebige Oldenburg“ oder „Well uff gaanz Welt wettet mir so naalange“ machen neugierig auf moderne, unkonventionelle Lyrik, Literatur.

Dazu passt ein manches Mal wirres Layout mit Zeichnungen und Fotografien von Eva Hocke bis Matthias Reinhold – chaotisch die Bildauswahl, die Collagen, der Seitenumbruch. Aber immer ein Eyecatcher, der grübeln lässt.

Als Vorgeschmack auf genüssliches Lesen ein Gedicht von Kurt Aebli:

Einer, der weiß

Regen, Regen, Regen, herbstliche
Kühle und Nebel seit
Wochen und nicht erst
im September jetzt,

und derjenige, der sagt: das war
kein richtiger
Sommer,
wird er eines Tages
sagen: das war kein
richtiges Leben,

wie einer, der weiß,
wovon er spricht?

Zu beziehen sind die beiden 175 Seiten starke Hefte für 12 EUR in guten Buchhandlungen zwischen Allgäu und Hegau und rund um den Bodensee oder per Mail bei eh(at)muellerhocke.de.

hpk