Mediterranea – Schicksal einer Flüchtlings-Odyssee
Nur noch wenige Tage ist „Mediterranea“ im Konstanzer Zebra-Kino zu sehen – die Geschichte einer Höllenfahrt ins gelobte Land, einer Flucht durch die Sahara und übers Mittelmeer. Brutal aktuell und enorm einfühlsam, findet unsere Kritikerin.
Ein junger Mann und sein Kampf ums Überleben. Schon wieder eine Heldengeschichte. Ein Schicksal wird verfilmt, nach einer wahren Begebenheit. Natürlich ist es ein Drama, denn es geht um die Flucht zweier junger Männer aus Burkina Faso über Algerien und Libyen nach Süditalien, nach Europa. Die Flucht bedeutet Lebensgefahr. Eine Wanderung durch die Wüste, die an biblische Geschichten erinnert. Maschinengewehre und brutaler Raub, was an Actionfilme erinnert. Eine Seefahrt im Schlauchboot, die irgendwie an „Der Weiße Hai“ erinnert.
Nur sind die ProtagonistInnen keine weißen Männer, die Jagd auf einen großen Fisch machen. Es ist kein Volk, dass in der christlichen Religion als Urväter ‚unserer‘ Kultur wahrgenommen wird, das durch die Wüste zieht. Die ProtagonistInnen sind Männer und Frauen aus afrikanischen Staaten. Ihre Flucht ist keine Fiktion, sondern eine wahre Geschichte. Und diese Geschichte ist kein Einzelschicksal, sondern heutiger Alltag. Das Leben dieser Menschen ist in Gefahr.
Der Film vom jungen Regisseur Jonas Carpignano begleitet in dokumentarisch-realistischen und ruhelosen Bildern den Weg von Ayiva und Abas. Ayiva, der von Koudous Seihon nicht nur für den Film gespielt wird, sondern dessen eigene Flucht es ist, hat seine siebenjährige Tochter zurückgelassen. Sie konnte nicht mitkommen, denn für Frauen und Mädchen ist die Flucht noch gefährlicher als für junge Männer. Die körperliche Anstrengung ist so groß, dass sie zum Erschöpfungstod führen kann. Menschen sterben im Mittelmeer. Menschen brechen zusammen, weil sie einfach nicht mehr können. Der Film zeigt fast etwas zaghaft, dass Frausein zusätzlich bedeutet, der brutalen sexualisierten Gewalt der Zwangsprostitution ausgeliefert zu sein. Ihre Notlage wird ausgebeutet, nicht von den Männern, mit denen sie fliehen, sondern von organisierten Kriminellen, die Frauenkörper auch an Europäer verkaufen können. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung wird ihnen genommen, so wie allen Fliehenden ihr Recht auf ein gutes Leben streitig gemacht wird.
Wenn Todesgefahr fühlbar wird
Die Fahrt übers Mittelmeer, das dem Film seinen Namen gibt, wird in den Blitzen eines nächtlichen Gewittersturms inszeniert. Mit dem gellenden Licht blitzen zugleich albtraumhafte Bilder von Wellen, Schwanken und Haltlosigkeit auf, die von Angstschreien begleitet werden. Der Donner versetzt die Szene wieder in Dunkelheit und Stille, die so unheimlich und unrhythmisch pulsiert und das Gefühl von Todesgefahr vielleicht im Kino spürbar macht.
Die Entspannung und Erlösung nach einer solchen Überfahrt, die sich erzählerisch anbietet – schließlich kommt üblicherweise in Filmen nach Spannung wieder etwas Ruhe, um auf die nächste dramatische Actionszene vorzubereiten – bleibt aus. Nach der Überfahrt wartet nicht das geheiligte Land. Es wartet eigentlich niemand. Bekannte, die auch geflohen sind, verhelfen den jungen Männern zu einem Schlafplatz in einem zugigen Zelt im behelfsmäßigen Flüchtlingsghetto und zu einem Job. Ayiva pflückt Orangen. Er trägt Orangenkisten. Er pflückt Orangen. Den ganzen Tag, für wenig Geld. Rassistische Gewalt ist Alltag. Die Bedrohung und das Wissen, nur geduldet zu sein, zermürben und traumatisieren. Die geliebten, liebenden Menschen sind so weit weg, ihr Trost, ihre Nähe fehlen so sehr.
Doch Verzweiflung kann man sich nicht leisten. Es muss weiter gehen. Wie die Wanderung durch die Wüste, bei der es einen Punkt am Horizont zu fixieren gilt, der aber, wenn er erreicht ist, einfach von einem neuen, weiter entfernten Punkt ersetzt wird. Die Ankunft nach der Flucht scheint wie die imaginäre Linie zu sein, die wir uns als Halt am Ende unseres Sichtfeldes vorstellen, die aber zurückweicht, wenn wir uns ihr nähern. Sie ist unerreichbar, sie ist eine Fiktion. Europa ist für Geflüchtete kein sicherer Ort.
Der Film bietet keine Katharsis, erlaubt keinen im Drama aufgehobenen Gefühlsausbruch, der sich im Halbdunkel des Abspanns beruhigen ließe und dann als 107 minütiges Mitgefühl im Kinosaal zurückbleibt. Man kann die Trauer und Wut über die Flüchtlingspolitik nicht gemeinsam mit dem Film enden lassen, ohne zu wissen, dass man die Realität ignoriert.
Die europäische Flüchtlingspolitik entrechtet Menschen
Wenn man sich traut, den Film an sich ranzulassen, bietet er eine Einsicht. Im Gerede von Willkommenskultur und Alternativlosigkeit, die eine Überraschung über viele Geflüchtete vorschiebt, um sie mit bedauerndem Pragmatismus in unwürdige Sammelunterkünfte und Sporthallen und Zelte oder ‚einfach‘ nirgendwo unterzubringen, wird unsichtbar gemacht, was im Film einsichtig wird: Die europäische Flüchtlingspolitik entrechtet Menschen, setzt sie auf unsicheren Fluchtwegen der Lebensgefahr aus, macht sie zu abhängigen und hilflosen BittstellerInnen, wenn sie sich auf ihre Menschenrechte berufen.
Der Fokus auf der exemplarischen und sogar verhältnismäßig ‚gut‘ gehenden Geschichte zweier Geflüchteter ist wichtig und viel zu selten. Der Film ermöglicht den ZuschauerInnen das Mitfühlen mit schwarzen Menschen, die im Angesicht rassistischer Ausschreitungen verlangen „Stop killing blacks“ – hört auf uns zu töten! Die Blockbusterfilme und die TV-Produktionen, die Talkshows, die Zeitungsartikel, die Literatur, die wir täglich konsumieren, verlangen viel zu selten die Perspektive jener einzunehmen, die so als „Fremde“ als „die Flüchtlinge“ als „Flut“ aus dem ‚Wir‘, dessen Leben von Gewicht ist, ausgeschlossen werden können. Es scheint uns abtrainiert zu werden, mit den Schicksalen von Schwarzen Menschen und People of Colour mitzufühlen, und so können wir lernen zu ignorieren, was mit ihnen passiert.
Der Film Mediterranea ist ein Beitrag, den Geflüchteten und damit auch uns die Menschlichkeit zurückzugeben, die es ermöglicht, wirklich in Frieden zu leben. Ein Film, der Mut verlangt, weil es heftig ist, den eigenen Rassismus mit den Augen seiner Opfer sehen zu müssen. Mediterranea verursacht aber keine Schuldgefühle, sondern Mitgefühl, was die Kraft geben kann, das eigene Handeln zu hinterfragen und von der Politik zu fordern, unsere, das heißt alle Menschenleben wirklich als schützenswert anzuerkennen. Fazit: Schau hin!
Der Film ist noch zweimal im Zebra-Kino zu sehen: heute, 19.10., 22:00 Uhr;
Di., 20.10., 19:30.
Louise Haitz