Melancholie, Wut, Bezauberung

Lyrik? Ja, es gibt sie immer noch – sogar hierzulande. Im ersten Programm des frisch geschlüpften Caracol Verlages der Autorinnen & Autoren ist etwa der Essayist, Prosaist und Lyriker Jochen Kelter, der seit annähernd 50 Jahren in Ermatingen lebt, mit seinem neusten Lyrikband vertreten. Literaturkritik? Ja, auch die gibt es noch, obwohl auch sie schwerstens vom Aussterben bedroht ist. Hier Hermann Kinders („Der Schleiftrog“, „Der Mensch, ich Arsch“) Gedanken zu Kelters Lyrik.

Vom renommierten Lyriker Jochen Kelter ist ein neuer, in zehn thematische Kapitel gegliederter Band erschienen: „Fremd bin ich eingezogen“. Der aus der „Winterreise“ entlehnte Titel ruft die moderne Melancholie auf, das existentielle Befangensein im Selbstzweifel, in der Ahnung vom Ende und die Trauer über Verluste, sei’s der Kindheit, sei’s der Hoffnung nach humaner Solidarität. Himmel, Wolken, Mond, See, gängige Motive der lyrischen Melancholie werden attributlos variiert und bestücken eine ‚Seelenlandschaft‘ als Spiegel eines verdüsterten Ichs. „Selbstporträt“: „übel bestellt der blaue Himmel erleuchtet / die kahlen Zweige zu schwarzem Gespinst / die Belagerung schreitet eifrig voran“. Keine Natureuphorie: „Ich kann mich nach / dem Winter nicht seelentaktgenau / dem Frühjahr froh ergeben das mich / unter triste Tücher drückt“.

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Kelters freie Verse in eher kurzen Strophen verknüpfen die Melancholie mit der „Haltung“ politischer Lyrik, in der an die Orte der Barbarei, des Schreckens erinnert wird (Auschwitz, Smolensk, Litauen, Gulag) und an die Unmenschlichkeiten der Gegenwart, hierzulande, in Äthiopien, in Kolumbien und überall. Die Wut trifft die hemmungsfreie Machtarroganz von „Ganoven“, „Hedgefonds“, „korrupter Politik“ und eingesessener Institutionen wie der Kirche, wie des Kulturbetriebes (Gruppe 47).Unmissverständlich ist der Appell: „Segel setzen gegen den Wind„; „widerständig sein„; „keiner / soll so will ich mehr einen Fuß / auf den Hals eines anderen setzen“. Eine Metapher, deren brutale Realität uns jüngst erschüttert hat.

Die Nennung Paul Celans weist auf eine dritte Seite von Kelters Lyrik  – nicht nur dieses Bandes: die Tradition der ‚dunklen Rede‘, einer absoluten Sprache, einer das Gegenständliche übersteigenden Magie. Suggestion, Klangbetörung, ergreifender Sound. Als Vorbilder für die ästhetische Faszination werden Maler genannt: Klee, Courbet, Rembrandt, Piero della Francesca. In den Gedichten zeigt sich die Kunst, mit der Komposition von Vokalen, Konsonanten und Rhythmen ergreifende Melodik zu schaffen: „Wetterleuchten im sternlosen / Himmel darauf gezackte Blitze / herunter durch die Nacht gefolgt / von krachendem Donner Grollen / entfernter Rollen Winde sodann“. Dazu nur dies Beiläufige: Warum das aparte „sodann“ zum Schluss der Zeile? Es bindet die Kette der a-o-Vokale und setzt eine Schlussbetonung („sodánn“). Auch so entsteht Poesie.

Die Unterscheidung der drei Aspekte, die mir aufgefallen sind, beruhen auf einem gemeinsamen Nenner, der im Blick auf Celan so formuliert wird: „nur was versehrt ist spricht wahr“.

Hermann Kinder (Bild: Jochen Kelter, fotografiert von Isolde Ohlbaum)


Jochen Kelter, Fremd bin ich eingezogen. Gedichte, Caracol Verlag, Warth, 2020, 20,- CHF/Euro, ISBN 978-3-907296-02-8.

Buchpremiere mit Josef Bieri am Donnerstag, 17. September, um 20.00 Uhr im Museum Rosenegg, Bärenstrasse 6, Kreuzlingen, Eintritt frei. Anmeldung per E-Mail hier.
Lesung am Mittwoch, 21. Oktober, um 20.00 Uhr in der Buchhandlung Homburger & Hepp, Münsterplatz 7 in Konstanz, Eintritt frei. Eine Voranmeldung persönlich oder unter Tel. +49-7531-90810 ist erforderlich.
Lesung am Freitag, 23. Oktober, um 19.00 Uhr im Kunstmuseum Singen, Ekkehardstraße 10, Singen, Eintritt frei. Für die Teilnahme bedarf es einer Anmeldung unter +49 (0)7731 85-269 oder per E-Mail hier.