Musik aus allererster Hand

Kim So-yeon

Bludenz, idyllisch unweit von Liechtenstein im österreichischen Vorarlberg gelegen, beeindruckt den flüchtigen Reisenden mit seinem Milka-Fabrikverkauf und einem überdimensioniert wirkenden Bahnhof von überraschender Betriebsamkeit. Doch der erste oberflächliche Blick trügt, denn die Stadt beherbergt seit rund zehn Jahren die „Bludenzer Tage für zeitgemäße Musik“, die sich zu einer echten Größe für alle entwickelt haben, denen es in Sachen Musik nicht hoch genug hergehen kann.

Während die Donaueschinger Musiktage, das Flaggschiff auf dem Markt für neue Musik hierzulande, hörbar nicht nur Musik, sondern gern auch (teils recht bemühte) Musikpolitik betreiben, hat sich Intendant Alexander Moosbrugger für die „Bludenzer Tage für zeitgemäße Musik“ (BTZM) 2012 ein quicklebendiges Programm einfallen lassen, das selbst eingefleischte Anhänger neuer Klänge nur verblüffen kann. Vom 21. bis 24. November werden in Bludenz nämlich zeitgenössische Werke für Soloklavier und Begleitensemble zusammen mit traditioneller Musik aus Korea präsentiert. Mitwirkende sind niemand Geringere als das Klangforum Wien, das Ensemble Contrechamps Genève und das Ensemble des Jindo National Gugak Center aus Südkorea.

Alexander Moosbrugger (Foto: Katja Hiendlmayer)

Wie sich das alles anhört? Wer es wirklich wissen will, muss schon hinfahren, denn was in Bludenz, am anderen Ende des Bodensees, unter dem etwas sperrigen Titel „Solitaires. Klavierconcerti und Korea.“ präsentiert wird, verspricht einen Ohrenschmaus für alle, die sich gern musikalisch so richtig überraschen lassen. So viel sei allerdings schon mal verraten: An den ersten drei Abenden werden jeweils westliche und koreanische Musik gespielt, das Abschlusskonzert am 24. November gehört dann ganz allein den Koreanerinnen.

Wie politisch ist Musik?

Natürlich gibt es in Bludenz auch bereits länger bekannte Musik zu erleben, nämlich Dietrich Eichmanns „Entre deux guerres“ („Zwischen zwei Kriegen“) für Soloklavier und 14 Musiker, ein trotz seiner kleinen Besetzung (unter anderem mit Akkordeon, Saxofon und E-Gitarre) ebenso monumentales wie hoch virtuoses Werk, das 1999 uraufgeführt wurde und sich durch seinen Titel als nicht nur, aber durchaus auch politisch motivierte Musik zu erkennen gibt.

Politik und Klavierkonzert – geht das überhaupt zusammen? Der Komponist selbst beschreibt den Zusammenhang so: „Der Begriff »Entre deux guerres« verweist hier auf die Entstehungszeit zwischen zwei Golfkriegen und zwei Balkankriegen. Ein spezifischer Bezug zu aktuellen politischen Ereignissen war für diese Komposition nicht geplant. Während der Arbeit aber umgaben mich die Informationen über die Ereignisse fast ständig und nahmen Einfluss auf den Arbeitsprozess, zunächst unwillkürlich, dann unausweichlich. Da ich mir hierüber zwangsläufig bewusst werden musste, setzte ich den genannten Titel [Entre deux guerres] – durchaus als Hinweis für den Hörer gemeint.“ Den Einfluss des Politischen auf Musik hält Eichmann für eher indirekt, aber unausweichlich: „Das künstlerische Ausdrucksbedürfnis des Menschen ist geprägt von den politisch-sozialen Umständen, in denen er lebt, an denen er aktiv oder beobachtend teilnimmt, letztendlich von den persönlichen Lebensumständen, die nicht trennbar von den gesellschaftlichen sind.“

Dietrich Eichmann (Foto: Elisabeth Kmölniger)

Man merkt unschwer: der Mittvierziger ist ein zorniger junger Mann geblieben, und das kommt seiner Musik durchaus zugute. Sein strikt durch komponiertes Werk geht natürlich weit über ein verengt politisches Verständnis hinaus in durchaus existentiell anrührende Empfindungsdimensionen. Es ist für Zuhörer wie Mitwirkende ein atemberaubender, rund 50 Minuten langer Parforce-Ritt, der auch Erfahrungen Eichmanns als improvisierender Musiker aufnimmt.

Wie neu ist traditionelle koreanische Musik?

Ähnlich wie die Musik Eichmanns dem Hörer neue Wahrnehmungs- und damit Erfahrungshorizonte eröffnen will, bieten auch die anderen Abende der BTZM eine ausgezeichnete Gelegenheit, sich musikalisch weiterzuentwickeln. Mit zwei in den letzten Jahren entstandenen Werken von Wolfram Schurig werden die BTZM am 21.11. eröffnet, beide Werke sind für Soloklavier geschrieben, wobei das Charles Darwin gewidmete „… vom gesang der wasserspeier …“ das Klavier mit Streichern, Bläsern und Schlagzeug konfrontiert, während „blick: verzaubert“ dem Klavier ein Streichquartett zur Seite stellt.

Der Kanadier Marc Sabat, ähnlich wie die anderen beiden Komponisten Mitte der 60er Jahre geboren, hat für sein Werk „Lying in the grass, river and clouds“ einen Kompositionsauftrag der Veranstalter erhalten, das Opus wird am 22. November in Bludenz uraufgeführt. Besetzt ist das Stück, eine „Klanglandschaft in 88 Teilen“ mit Soloklavier und 14 Soloinstrumenten.

Lee Sang-kyung

Was hat es aber nun mit der traditionellen koreanischen Musik bei den BTZM auf sich, was hat sie bei einer der europäischen zeitgenössischen Kunstmusik gewidmeten Veranstaltung zu tun? Die Antwort fällt überraschend leicht: Für europäische Ohren gehört sie zum Außergewöhnlichsten, das jemals auf dieser Welt ersonnen wurde. Sie ist rhythmisch oft vertrackt und wirft vieles von dem über den Haufen, was man sich unter traditioneller asiatischer Musik vielleicht vorstellen mag. Auch manche ihrer Wurzeln sind uns Europäern unvertraut. Als Abschlusskonzert am 24.11. gibt es etwa einen kompletten Abend mit Sinawi-Musik, einer improvisierten Musik für Instrumentalensemble, die früher schamanistische Rituale begleitete.

Nun, beim Wort „Schamane“ allein schon zieht so manche westliche Esoterikerin ihren Wickelrock enger und sieht vor ihrem geistigen Auge Schwärme guter Geister und Schutzengel an sich vorüber huschen. Das dürfte, so viel sei versprochen, in diesem Fall ein ebenso böses wie lehrreiches Erwachen geben, denn Sinawi-Musik ist eher dazu geeignet, einem esoterisch gesonnenen Zeitgenossen das sichere Gefühl zu vermitteln, er sei von allen guten Geistern verlassen. Und damit sind die BTZM ein wesentlich besserer Grund, mal wieder nach Bludenz zu fahren, als selbst das Milka-Lädele.

Autor: Harald Borges

Quelle: Jörn Peter Hiekel (ed.), Berührungen. Über das (Nicht-)Verstehen von Neuer Musik, Mainz/London/Berlin 2012, darin: Dietrich Eichmann, Verstörungstaktiken gegen Affirmation – Zur Unausweichlichkeit einer politischen Aussage in Musik, S. 131-136.

Website der Bludenzer Tage für zeitgemäße Musik: www.btzm.at