Musik-Avantgarde vor 600 Jahren

Mein Auto kommt aus Japan, mein Computer aus Thailand, Oliven aus der Türkei, und beim Mittelalterfest stehen die Menschen sich die Füße platt: Die Welt wirkt mittler­weile wie ein Jahrmarkt, auf dem alle Orte und Epo­chen zu­gleich präsent sind. Ganz anders aber ist es mit der Musik. Traditionelle koreanische Musik zum Beispiel ist uns fremder als die Mars­ober­fläche. Nicht zuletzt die eigene Un­wissen­heit also machte das Konzert mit osmanischer Musik um 1400 im Kultur­zen­trum am Münster am Montag so spannend.

Wie relativ rege der Austausch zwischen ganzen Kontinenten schon an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit war, zeigen verschiedene Handschriften der Richental-Chronik des Konstanzer Konzils. Darin finden sich nämlich auch Bilder osmanischer Kopfbedeckungen. Wissenschaftler schließen daraus, dass osmanische Notabeln nach Konstanz gereist sind und dabei vermutlich auch einige ihrer Musiker mitgebracht haben. Es ist also nicht ganz ausgeschlossen, dass ein Stück des Konzertes mit osmanischer Musik in Konstanz vor 600 Jahren schon einmal erklungen ist.

Nichts fürs Volk

„Die tragende soziale Schicht dieser Kunstmusik bildeten Angehörige des Osmanischen Hofes und deren Umfeld […]. Es waren Höflinge, die Frauen im Serail und Angehörige der obersten Familien bis hin zu den Sultanen selbst. Hinzu kamen Moscheesänger, Gebetsrufer und Derwische. Die einfache Bevölkerung, vor allem die ländliche Bevölkerung, hatte mit dieser Musik zunächst nichts zu tun,“ schreibt der Musikwissenschaftler Martin Greve. 1400, man erinnert sich, steckte das osmanische Reich in den Kinderschuhen, Konstantinopel war noch oströmisch-byzantinisch, die Osmanen hatten aber schon weite Gebiete der heutigen Westtürkei erobert und nahmen das spätere Istanbul bis 1453 zunehmend in die Zange.

Osmanische Musik dieser Zeit liegt ähnlich wie mittelalterliche europäische Musik oft nicht in vollständig durchkomponierten Werken vor, sondern wurde nur teilweise notiert. Die Stücke wurden vielmehr vom Lehrer mündlich und in der täglichen Übungspraxis an die Schüler weitergegeben. Typisch ist der „Maqam“, die Technik, im Rahmen bestimmter festgelegter Parameter wie Tonskalen, Rhythmen und Verzierungen zu improvisieren. Dazu gehört auch eine bestimmte einstimmige Melodiestruktur.

Musikforscher

Das Programm des von der Konzilstadt Konstanz zusammen mit SWR 2 gestalteten hochkarätigen Konzertes haben der Istanbuler Kanun-Virtuose Ruhi Ayangil und der Musikethnologe Ralf Jäger aus Münster gemeinsam erarbeitet. Sie haben dafür Archivalien, aber auch musiktheoretische Abhandlungen und andere historische Quellen herangezogen, etwa klassische Texte der islamischen Musikphilosophie und -praxis von al-Fārābī oder al-Kindi. Dazu kamen Handschriften persischer Komponisten des 13.-15. Jahrhunderts.

Auch Ali Ufkî, ein Pole, der im 17. Jahrhundert in türkische Gefangenschaft geriet und am Hof in Istanbul Karriere machte, hat wichtige Aufzeichnungen hinterlassen und traditionelle türkische Musik in europäischer Notation hinterlassen. Trotz allem bleibt bei einem solchen Programm ein Rest Spekulation, und wie diese Musik damals wirklich geklungen hat, wird sich nie mehr mit absoluter Sicherheit erschließen lassen.

Liebe versus Liebe

Das fünfköpfige Ayangil-Ensemble trat teils mit heute nicht mehr gebräuchlichen Instrumenten auf: Kanun, Nuzhe und Çeng sind verschiedene Arten von Zittern. Dazu kommen die relativ kräftige Schilfrohrflöte Ney, die über ein auffälliges Mundstück verfügt, die gezupfte Langhalslaute Tanbur sowie Handtrommel und einstimmiger männlicher Gesang. Viele Stücke waren Lieder, bei denen das Instrumentalensemble den Sänger begleitete.

Es ging – worum auch sonst? – um Liebe: Im ersten Teil um die ganz irdische Liebe zu einer Frau. Man wagt es kaum zu sagen, aber das war ein resignatives Jammern und Wehklagen verschmähter Liebe wie auch noch heutzutage. In mancher Hinsicht scheint die Zeit also stillzustehen. Schade war natürlich, dass im Programmheft weder der Originaltext noch eine deutsche Übertragung desselben abgedruckt wurden, denn man versteht von einem Lied deutlich mehr, wenn man eine leidlich klare Vorstellung vom Inhalt seines Textes hat. In der Einführung vor dem Konzert war nämlich deutlich geworden, dass zumindest einige der Liedtexte von hochrangigen Lyrikern wie Rūmī stammen und immensen poetischen Zauber entfalten, wenn es etwa um eine Rose geht, die im Schatten einer Hyazinthe ruht.

Wie klingt das nun?

Die Musik selbst ist nicht immer so fremd wie erhofft: Der Gesang entfernt sich noch am ehesten von europäischen Hörgewohnheiten, denn dabei wird am deutlichsten, was Mikrotonalität bedeutet: Unsere Musik arbeitet mit Ganz- und Halbtönen, diese Musik kennt wesentlich mehr Töne dazwischen, die insbesondere in Verzierungen hörbar zum Tragen kommen. Auch ein System wie das unsere, in dem die Melodiestimme in Akkorden begleitet wird, gibt es hier nicht, es herrscht eher eine Heterophonie. Daraus entwickelt sich bei aller durch die Trommel bewirkten rhythmischen Geschlossenheit ein schwebender Klang vor allem der Zupfinstrumente. Diese Musik atmet hörbar, was ihren improvisatorischen Charakter unterstreicht.

Im zweiten Teil, in dem die irdische Liebe der Liebe zu Gott Platz machte, wurde es dann schneller und auch tanzbarer. Hier machten sich Einflüsse der sufistischen Tradition einer verinnerlichten Religiosität, für die etwa die tanzenden Derwische von Konya stehen, bemerkbar. Für manche Komponisten ist die Liebe zu einem abwesenden Gott inspirierender als jene zu einer abweisenden Frau.

Steh‘ auf. Wasch‘ Dein Gesicht.
Aber nimm‘ das Wasser, das die Rose schöner macht.
Dschalāl ad-Dīn ar-Rūmī

Alle vier Konzerte der Konstanzer Reihe „Avantgarde um 1400“ vom Wochenende sendet SWR 2: 14., 21. und 28. Januar 2017 um 19.05 Uhr, das Ayangil Ensemble steht am 24. Januar 2017 um 23.03 Uhr auf dem Programm.

H. Borges, Foto © Ruhi Ayangil

Literatur: Martin Greve, Nachtigall und Todesengel. Die Besonderheiten der türkischen Musik: http://www.swr.de/-/id=5621312/property=download/nid=660374/17ss1z/swr2-wissen-20091227.pdf