Niemandsländer kann man hören

Die letzten weißen Flecken auf den abend­län­dischen Landkarten haben Kolonialisten, Abenteurer und Schatzsucher in den letzten Jahrhunderten oft genug mit dem Blut der Ureinwohner ausgemalt. Die musikalische Landkarte hingegen ist noch immer lücken­haft. Luxemburg gibt es in der Tat, man kann ja hinfahren und sich vom Felsen stürzen, aber musikalisch ist das außer RTL ein weißer Fleck auf der Landkarte, und auch Belgien und die Niederlande sind in den letzten Jahrzehnten stumm geblieben. Oder?

Fragt man Erich Born, den rührigen Klarinettisten der Südwestdeutschen Philharmonie, nach seiner Vorbereitung auf ein Konzert mit zeitgenössischer Kunstmusik aus den Benelux-Staaten, so merkt man schnell, welche Mühe er aufwenden musste, sich intensiver mit diesem Thema zu beschäftigen. Viel geben der CD-Markt und youtube nicht her, und allzu viel findet man auch in Wikipedia nicht.

Also gilt es, musikalisches Neuland zu entdecken, denn der letzte Meister aus diesen Gegenden, der es auch am Bodensee zu einiger Bekanntheit brachte, war Heinrich Isaac – vor fünfhundert Jahren. Ein typischer Fall also für die engagierten MusikerInnen des Philharmonischen Kammerorchesters für neue Musik der Südwestdeutschen Philharmonie.

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Grenzgänger

Zu den populäreren Vertretern der Musik aus Benelux zählt Jacob Ter Veldhuis (*1951), der seine Laufbahn als Rockmusiker begann und später Komposition und elektronische Musik studierte. Er nennt sich selbst einen Komponisten des „Avant Pop“ und hat sich den Künstlernamen JacobTV gegeben. Er komponiert eher tonal und behauptet von sich, er pfeffere seine Musik mit Zucker. Effektvoll ist das allemal, nicht gerade die Spitze der Avantgarde, aber das ist in Zeiten der Postmoderne auch nicht zwingend erforderlich, um in den Konzertsälen der Welt und den Feuilletons Gehör zu finden.

JacobTV arbeitet in seinem 3. Streichquartett mit Versatzstücken der Populärkultur. Schon dessen Titel „There must be some way out of here“ ist ein Zitat aus „All along the watchtower“ von Bob Dylan. Diese Musik hat wenig von der zergrübelten Seite der europäischen Tradition, sie setzt auf Rhythmus, Energie und pflegt bewusst ihren hohen Unterhaltungswert. „Hier geht es ganz um den Klang, um die Kräfte von Anziehung und Abstoßung rund um die zentrale Note D“, und Klang heißt für JacobTV auch Harmonie. In diesem Sinne ist dieses Werk die Suche nach einer harmonischen ‚Lösung'“, wie der Komponist auf seiner Homepage „Boombox Holland“ schreibt. Und weiter: „Die Suche nach einer neuen Ästhetik meint für JacobTV aber keinen Rückfall in eine romantische Tonsprache. Im Gegenteil: Das dritte Quartett ist im Wesentlichen ein einziges großes Crescendo mit markanten Elementen aus dem Rock und Blues. Eigentlich wollte es der Komponist wegen seiner Energie ‚Das Leben und der Junge‘ nennen, in ausdrücklicher Umkehrung von Schuberts Streichquartett ‚Der Tod und das Mädchen‘.“ So funktioniert Musik heute.

Tam-Tam und Gong

Etwas stiller gibt sich der Belgier Jean-Pierre Deleuze (*1954), der In Brüssel studierte und sich außerdem stark von Olivier Messiaen beeindruckt zeigte. Er ist ein in der Musikszene seines Heimatlandes anerkannter Mann. In seinem 2012 entstandenen Werk „Et les sonances montent du temple qui fut“ wählt er einen ganz dezidierten Ausgangspunkt. Er nutzt den Klang von Schlaginstrumenten wie Tam-Tam und Gong als Grundlage eines Stücks, das in einer teils exotischen Mischung von Instrumenten den unterschiedlichsten Klangfarben nachspürt. Nicht umsonst war der musikalische Ausgangspunkt des jungen Deleuze ursprünglich einmal der späte Skrjabin, ehe er die Spektralästhetik und außereuropäische Klänge für sich erschloss. Der Titel des Werkes erinnert nicht von ungefähr an Claude Debussys „Et la lune descend sur le temple qui fut“ und ruft unbestimmte Erinnerungen und ein letztlich versöhnliches Empfinden für die Vergänglichkeit wach.

Am Lagerfeuer

Auch Luxemburg hat zumindest einen Komponisten hervorgebracht, der selbst auf der anderen Seite der Erde hohe Wertschätzung genießen. Georges Lentz wurde 1965 in Luxemburg geboren und lebt vor allem in Sydney und Berlin, er wird zugleich als der bedeutendste luxemburgische und der bedeutendste australische Komponist gefeiert. Man sagt ihm nach, dass er sich in die Benediktinerabtei Hellege Moritz von Clervaux in Luxemburg oder in das australische Outback zurückziehe, um Inspiration für seine Werke zu finden, die spirituell-esoterisch unterfüttert sind.

Lentz ist nach eigenen Angaben fasziniert von der „pythagoräischen Idee der Sphärenmusik, einer Musik, die laut Pythagoras durch die Rotation der himmlischen Sphären erzeugt wird und für Gott hörbar, für menschliche Ohren hingegen unhörbar ist. Als Teil des Zyklus „Mysterium“ schrieb Lentz 2000-2001 das Stück „Nguurraa“, dessen Titel in einer der Sprachen der australischen Aborigines „Licht“ heißt und auf einen weiteren wichtigen Einfluss hinweist: die Aborigine-Malerei. „Die bekannte ‚Punkt‘-Technik (oft über versteckten Linien) hat mich zu einer Übersetzung ins Musikalische angeregt. Nicht so sehr das australische Tageslicht (das übrigens viel greller als das in Europa ist), sondern vor allem die unglaubliche Leuchtkraft und Klarheit des Sternenhimmels in der völligen Stille des Outback sind Gegenstand der Komposition.“

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Holzmusik

Deutlich fester auf dem Boden der Erde scheint der Belgier Thierry de Mey (1956) zu stehen, der nicht nur komponiert, sondern auch als Filmemacher tätig ist. Der Titel seiner 1987 entstandenen „Musique de tables“ für drei Schlagzeuger, geschrieben für Wim Vandekeybus‘ Tanz-Kompagnie „Ultima Vez“, spielt natürlich einerseits mit der Tradition der „Tafelmusiken“, hat andererseits aber einen durchaus greifbaren Hintergrund: Als Instrumente dienen drei Bretter, aus denen man auch Esstische zimmern könnte. In diesem Werk kommt nicht nur den Tönen, sondern auch den Bewegungen eine Bedeutung zu, weshalb bestimmte Gesten im Notentext durch eigene Symbole notiert sind. Für den Künstler „begann mit diesem Stück etwas Neues. Ich verstand, wie wichtig Bewegung innerhalb der Musik ist: Bewegung ist wie die Musik der Musik. Im Tanz tritt sie in ihrer reinsten Form auf, aber sie steckt in allem Menschlichen, überall.“

Nicht nur für Mey, sondern auch für einen weiteren Komponisten begann mit einem Werk dieses Abends etwas Neues: Schon ein Klassiker ist das Bläserquintett No. 1, op. 13 von Willem Frederik Bon (1940-1983). Das 1966 entstandene Werk brachte dem Künstler, der aus einer Musikerfamilie stammte und auch als Dirigent tätig war, den Durchbruch als Komponist. Seine Musik ist von der kompositorischen Ökonomie der Zweiten Wiener Schule um Schönberg ebenso wie von der Klangfülle des französischen Impressionismus beeinflusst, mied aber die Atonalität. Aus dem heutigen Blickwinkel ist sie ein Schritt mitten in jenen trüben Strudel um 1900, aus dem ziemlich bald etwas ganz Neues aufsteigen sollte: Die Moderne.

So, und jetzt wissen Sie, was Sie musikalisch in jenen Ländern erwarten könnte, die dort liegen, wo unsere normale Vorstellungskraft aufhört – wenn wir nicht gerade mal wieder einen neuen Weltkrieg planen.

Harald Borges (Bild: Franz Lang, fotografiert von Peter Hecking [SWP])


Das „Philharmonische Kammerorchester für neue Musik“, ein Zusammenschluss von MusikerInnen der Südwestdeutschen Philharmonie Konstanz, widmet sich der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Es wird von Franz Lang dirigiert, der bereits mit namhaften Orchestern wie den Berliner Philharmonikern und dem Gewandhausorchester zu hören war. Seit 1999 ist Franz Lang Professor an der Staatlichen Hochschule für Musik Trossingen, deren Schlagzeugensemble er als Dirigent leitet.


Konzert

Freitag, 07.06.2019, 19:30 Uhr, Konzil, Konstanz, Eintritt: 18 €, erm. 14 €

Ein Konzert des Bodenseefestivals. Konzertkarten sind beim Stadttheater Konstanz (07531 900-150), bei der Südwestdeutschen Philharmonie (9.00 Uhr bis 12.30 Uhr) und bei der Tourist-Information am Hauptbahnhof sowie in allen Ortsteilverwaltungen erhältlich. Tickets auch im Internet unter www.philharmonie-konstanz.de.