Phantom-Horror unter`m Hohentwiel ?

Für viele Musicalfans sicher ein Leckerbissen: Das Phantom der Oper, eine Neuinszenierung nach dem Roman von Gaston Leroux, gastiert am 30.12. in der Singener Stadthalle. Als das Stück 1986 Premiere feierte, überschlugen sich die Kritiken schier. Vor allem die Musik von Andrew Lloyd Webber ließ Begeisterungsstürme losbrechen. Nun ist das Phantom in neuen Gewändern unterwegs, aber ohne Webbers angeblich berauschende Klänge, was nicht nur bei Insidern heftigstes Stirnrunzeln hervorgerufen hat

Vorab zur Geschichte: Sie spielt in der Pariser Oper. Kurz vor ihrem Auftritt erkrankt die Solistin Carlotta und ihr versagt das Stimmchen. Ersatz ist gefragt und mit dem Chormädchen Christine wird man auch schnell fündig. Sie singt und trällert, als hätte sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan. „Oh mio Babbino caro“ kommt so inbrünstig, rein und glasklar über ihre Lippen, dass die Zuhörer dahinschmelzen vor Ergriffenheit. Doch wie kann das gehen? Ein Zimmermädchen als Gesangsstar? Nun ja, hinter ihrer Sangeskunst steckt kein anderer als das „Phantom“, das dem Mädel vom Lande beibringt, wie man singt. Aber der Meister hat auch sehr bodenständige Hintergedanken. Als Gegenleistung für seine Ausbilderfunktion erwartet er Christines Liebe ab sofort und immerdar. Die aber hat ihr heftig pochendes Herz längst dem Grafen Raoul de Chagny geschenkt. Dumm gelaufen für alle Beteiligten. Da steht sie nun, unsere Christine, herzzerissen zwischen zwei Männern, die ihr an die Wäsche wollen. Ihr Verstand tendiert zum „Phantom“, dem Urheber ihres unerhofften Erfolges als umjubelter Opernstar. Ihr glühender Leib indes hat sich längst für den adligen Raoul entschieden. Die Stimmung erreicht den Höhepunkt, als der mächtige Kronleuchter in tausend Stücke zerbirst, Chaos ausbricht und Christine, die schwerst hormongebeutelte Maid, in ihrer Verzweiflung dem Phantom die Maske vom Gesicht reißt. Oh Schreck, oh Graus, Abgründe tun sich auf und Christine schwankt zwischen Abscheu und Mitleid. ….Das, liebe LeserInnen, sollte als kleine Einstimmung für die kommende Aufführung erst Mal reichen.

Christines Rolle hat die bekannte Sopranistin Deborah Sasson übernommen. Sie war es auch, die 2010 dem Stück eine neue Fassung verordnet hat. Herausgekommen ist eine Neuinszenierung des Stoffes, die sich mehr am Buch orientiert als am Musical von Andrew Lloyd Webber. Sasson wurde 1959 in Boston, Massachusetts, als Tochter eines Iren und einer Italienerin geboren. Schon als Jugendliche entdeckte sie ihre Liebe zur Musik und studierte später am Oberlin-Konservatorium in New York klassischen Gesang. Schnell bekam sie ein Engagement an der Metropolitan Opera und auch ihr Debüt am Broadway ließ nicht lange auf sich warten. Leonard Bernstein wurde 1982 auf die junge Sängerin aufmerksam und vermittelte Deborah Sasson nach Hamburg, wo sie in der Inszenierung der West Side Story die Rolle der Maria übernahm. Seitdem ist sie auf allen Bühnen der Welt ein gern gesehener und gehörter Gast.

Zurück zum Phantom der Oper. Das Remake mit neuer Musik und neuen Texten war von Anfang an ein gewagtes Unternehmen. Sicher, die facettenreiche und kraftvolle Stimme von Deborah Sasson ist in der Tat ein Genuss. Aber dass die mittlerweile 52-jährige die Hauptrolle der blutjungen Christine an sich gerissen hat, ist mutig und führte zu allerlei despektierlichen Äußerungen in Kritikerkreisen. Der Musikkritiker Fritz Jurmann konnte nach der Aufführung der Oper in Bregenz Anfang 2012 kaum an sich halten. „Es bedarf freilich einer größeren Portion Fantasie, sich diese gestandene Operndiva als junge Chorsängerin Christine Daae vorzustellen, wie sie die weibliche Hauptrolle eigentlich verlangt“. Viel vehementer noch geißelt Jurmann, dass Webbers Musik im Orkus verschwunden ist. Da wird der Mann deutlich, ja fast grob: „Dagegen sind die neu dazu komponierten Teile des deutschen Duos Gerd Köthe/ Roland Heck von unsäglicher Flachheit und Trivialität. Sie hecheln im Fahrwasser Webbers dem großen Original hinterher, ohne dieses jemals auch nur ansatzweise zu erreichen, und kommen dabei bestenfalls auf das Niveau von Dieter Bohlens „Modern Talking“-Popsongs. Insofern kann man dieses Konzept als gescheitert betrachten“. Eine vernichtende Kritik, und Jurmann steht mit seiner Einschätzung, dieses Musical erinnere ihn eher an ein „Grusical“, nicht alleine.

Der Veranstalter lobt die Aufführung in den höchsten Tönen lobt und preist sie an als „spektakulärste Tourneeproduktion, die derzeit in Europa unterwegs ist“. Ein „ atemberaubendes Bühnenbild und modernste 3D Videotechnik“ käme hinzu und schaffe somit eine „ perfekte Bühnenillusion“. Das ist legitim und liegt in der Natur des Kulturkaufmanns, von dem man ja wahrlich nicht verlangen kann, dass er seine Veranstaltung vorab als lauen Aufguss oder gar als Rohrkrepierer bezeichnet. In Bregenz allerdings reagierten die Besucher bis zum Finale mit durchgängiger Applausverweigerung. Warten wir mal ab, wie das Publikum in Singen auf die Neuauflage reagiert.

Phantom der Oper, Sonntag, 30.12.2012, 19 Uhr, Stadthalle Singen

Tickets: Tel: 07531-908844 oder www.koko.de

Autor: Holger Reile