Philharmonie: Zwischen Hoffen und Bangen

Seit einem Jahr hat Insa Pijanka ihre BlechbläserInnen nicht mehr getroffen, was kein Wunder ist, gilt diese Instrumentengruppe doch aufgrund ihres stürmischen Atmens als besonders effektive Virenschleuder. Aber die Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen keimt jetzt auf: Das Programm der Philharmonischen Konzerte für die nächste Saison 2021/2022 ist nämlich fertig, und die Intendantin hofft, dass der Proben- und Konzertbetrieb bald wieder in nennenswertem Umfang aufgenommen werden kann.

Während Seuchen in der jüngeren politischen Geschichte eine große Rolle spielten (zu den Choleratoten 1831 zählten etwa Gneisenau, Clausewitz und Hegel), so ist die Schneise, die sie in den luftigen Auenwald der neueren Musikgeschichte geschlagen haben, ziemlich schmal: Tschaikowski kommt einem da in den Sinn, und falls ihn die Cholera tatsächlich auf dem Gewissen haben sollte, stellt sich zudem die Frage, ob sie ihn wirklich zu früh und nicht vielleicht doch um einige Jahrzehnte zu spät erwischt hat.

Flexibilität ist gefragt

Mit der derzeitigen Corona-Pandemie aber läuft es etwas anders: Sie hat das gesamte Musikleben in vielen Ländern, so auch in Deutschland, fast völlig zum Erliegen gebracht und könnte zumindest den klassischen Konzertbetrieb noch für längere Zeit mitprägen, wie Insa Pijanka erläuterte. So fallen etwa die Chorkonzerte, bei denen die Philharmonie zumeist Laienchöre begleitet, in diesem Herbst weitgehend aus, Festivals wurden abgesagt, und die Planungsgrundlagen ändern sich dauernd: „Erst durften wir nichts, und jetzt sollen wir plötzlich ganz flexibel sein“, charakterisiert die Philharmoniechefin die Situation, die noch einige Zeit sehr angespannt bleiben dürfte. Wenn während der Proben oder der Konzerte auf der Bühne größere Sicherheitsabstände eingehalten werden müssen oder nur maximal 30 MusikerInnen zusammenwirken dürfen, ist an üppig besetzte Orchestermusik der Klassik und Romantik natürlich nicht zu denken, dann heißt es eben Boccherini statt Bartók und Wagenseil statt Wagner.

Aber im Moment sieht alles gut aus, also soll die Normalität wiederkehren. Bereits im Juni soll es wieder losgehen, mit strengen Auflagen und vor reduziertem Publikum, versteht sich, und wer eine Karte bekommen will, sollte sich daher am Erstverkaufstag 1. Juni sputen: Es gibt nur einen Einzelverkauf, Abonnenten erhalten zwar einen Rabatt, aber keine bevorzugte Kartenzuteilung. Das Programm mit vorwiegend leichter Kost von Sibelius, Svendsen, Beethoven und Mozart wird von 11.-13. Juni insgesamt sechsmal in Konstanz und Radolfzell gespielt (Einzelheiten hier). Außerdem ist das Orchester bis zur Pause ab 9.8. auch noch unter freiem Himmel z.B. auf dem Münsterplatz, im Neuwerk und auf der Mainau zu hören.

Saison ohne Chefdirigent

Die neue Saison ab September steht dann unter einem besonderen Stern: Da derzeit die Position des Chefdirigenten unbesetzt sind, arbeiten in der Saison auserlesene BewerberInnen (ja, auch eine Frau ist diesmal darunter) mit dem Orchester, und diese Konzerte dürften ganz erheblich darüber mitentscheiden, wer ab 2022 die Stabführung in Konstanz übernimmt.

Normalerweise entstehen Konzertprogramme ja in engster Abstimmung mit den ChefdirigentInnen, aber dieses Mal ist vor allem die Intendantin in die Bresche gesprungen. Sie hat versucht, den insgesamt 10 Philharmonischen Programmen jeweils ein eigenes Gepräge zu geben und neben den am häufigsten vertretenen Soloinstrumenten Klavier, Violine und Cello auch seltenere Instrumente zu präsentieren. Ein besonders guter Griff ist ihr dabei mit Debussys sehr debussyhafter Rhapsodie für Altsaxophon und Orchester gelungen, flankiert von Jacques Iberts gefälligem Kammerkonzert für dieselbe Besetzung.

Pijankas Lieblinge

Natürlich darf in einem Pijanka-Programm auch ihr Liebling Schostakowitsch nicht fehlen, dieses Mal ist er mit seinem ersten Violinkonzert sowie seiner 9. Symphonie vertreten. Er wird dankenswerter Weise von zwei seiner Zeitgenossen begleitet, die im Westen weitgehend unbekannt geblieben sind: Dmitri Kabalewski war ein in der UdSSR hochdekorierter Komponist, der sich auch darum bemühte, vernünftige Musik für Kinder zu schreiben (die über die Ausgaben von Sikorski auch in manche bundesdeutschen Wohnzimmer gelangte). Sein effektvolles 2. Cellokonzert ist in der Zunft der KniegeigerInnen dem Vernehmen nach ziemlich beliebt, in Konstanz wird es von Torleif Tedeen dargeboten. Ein anderer Zeitgenosse, Protegé und Freund des großen Schostakowitsch war Mieczysław Weinberg, ein modernerer Komponist als Kabalewski, was ihm in der UdSSR auch schon mal eine Rüge wegen „Formalismus“ einbrachte. Er wird erst in den letzten Jahren weltweit entdeckt und ist immer einen Konzertbesuch wert. Der Solist in seinem Violinkonzert von 1959 ist der Geiger Linus Roth, der sich besonders für Weinbergs Musik einsetzt und als Artist in Residence fungiert.

Neben dem üblichen Konzertauftrieb von Haydn bis Prokofjew gibt es in dieser Saison auch ein Frühwerk von György Ligeti, das „Concert Românesc“, sowie Musik von Peteris Vasks, John Corigliano und im Januar 2022 Tōru Takemitsus Violakonzert „A String Around Autumn“. Mit von der Partie sind dabei Haydns Sinfonie „Le Matin“ – und Robert Schumanns „Fühlingssymphonie“. Wenn das wieder einen so trost- und endlosen Winter gibt wie in diesem Jahr, könnten so manche KonzertbesucherInnen, wenn sie sich auf dem Heimweg vom Konzert gegen den Sturm lehnen, der ihnen seit Wochen den Schneeregen horizontal ins Gesicht peitscht, diese penetrante Erinnerung an den Frühling als puren Hohn empfinden.

Harald Borges (Text und Bild)