„Porträt eines jungen Mannes aus alter Zeit“
Der Titel von Hermann Kinders neuem Roman klingt etwas verwunschen, fast nach einem Märchen. Aber die „alte Zeit“, die dann kommt, hat nichts Märchenhaftes. Auch Eichendorff lässt nirgends grüßen. Die Zeit ist prosaisch, unverträumt, genau erinnert oder rekonstruiert. Es ist die unmittelbare Nachkriegszeit. Karg – alles, was es heute gibt, was wir heute wie selbstverständlich konsumieren, gibt es noch nicht.
Aber leidenschaftlich, apodiktisch, radikal kann sie auch sein. Die selbstbestimmte Person denken, ist bereits ein Thema. Die 50er Jahre bestehen nicht nur aus Adenauer. Der junge Mensch, dessen kurze, früh und hart abbrechende Geschichte hier erzählt wird, insistiert auf sich als Subjekt – mit fortschreitender Reifung nur rigoroser. Es ist keine Jugendkrise, es ist eine Philosophie, ein Lebensentwurf. Er ist bereit, den Preis dafür zu zahlen. Wir lernen ihn begreifen als einen jener „Existentialisten“ , wie es sie auch in Nachkriegsdeutschland gab – lange vor der oft zu isoliert gesehenen, hochstilisierten Wende von „1968“ und ihren selbstverliebten Schwarmgeistern. Er will Schauspieler werden und scheitert damit. Aber nicht aus Mangel an Können, an Originalität, am Wunschdenken, am Selbstbetrug, wie es der verbrauchte, spätromantische Topos solcher Künstlergeschichten will. Er scheitert am Zweifel an sich selbst, an der Überstrenge, Überwachheit sich selbst und seinen ersten Leistungen als angehender Schauspieler gegenüber.
Daneben – in Erzählform, Stil, Schrifttyp scharf, schroff von der eigentlichen Geschichte abgesetzt – meldet sich ein Diskurs, ein Essay zu Wort: eine beschlagene, raffinierte, scharfsichtige Chronik der durchschlagenden Veränderungen unser Lebensformen in den letzten Jahrzehnten. Oder funkt dazwischen. Eine wohlige Illusion kann da nicht aufkommen. Die von der Lektüre eines Romans gern erwartete Trance sieht sich gestört. Zwei grundverschiedene Textformen also, einander ablösend und immer wieder unterbrechend – ein Bild. Aber ein Bild, das sich erst im Kontext eines ganzen Panoramas von technischem Fortschritt und sozialem Wandel voll erschließt. Das Gesicht eines Menschen, der von unseren Modernisierungsschüben noch nichts mitgekriegt hat. Und so von ihnen auch noch nicht überwältigt, abgelenkt, zerstreut und verblödet werden kann. Er weiß noch nichts vom multifunktionalen Handy neuester Generation und kann so auch nicht den lieben langen Tag darauf starren.
Er heißt kurz „E“. So, als ob der volle Name dieses unscheinbaren Erwählten und Beladenen vor Preisgabe zu schützen sei. Das Kürzel scheint die Person dahinter zu verstecken, aber es macht sie im Gegenteil wirklicher – auch dieser Kunstgriff zeigt wieder, wie sehr die literarische Fiktion hier mit dem dokumentarischen Genre liebäugelt und spielt. E wächst – nach dem brutalen Chaos von Kriegsende, Vertreibung, Flucht vor den Russen, das er noch nicht bewusst erlebt – in einer Familie auf, die sich mühsam durchschlägt, aber zusammensteht. Die tapfere Mutter, der nach schweren Verwundungen einigermaßen zusammengeflickt aus dem Krieg zurückgekehrte Vater, der ältere Bruder – das ist Rückhalt, Geborgenheit, kein problematisches Milieu, das den kleinen E bereits auf eine unglückliche Schiene brächte und die spätere Vereinsamung des jungen Künstlers vorwegnähme. Auch die „Verlorenen“, zu denen der Heranwachsende sich dann zählt, sind nicht verloren. Es ist ein kleiner Freundeskreis von rebellisch oder auch nur nonkonformistisch gestimmten Gymnasiasten, die sich andere Filme ansehen, lesen, tiefschürfend debattieren und krachend die eigene Sprachgewalt erproben. Die Fahrradtour über die Grenze nach Holland, eher eine Bruchlandung, ist ein richtiges Abenteuer für diese wenig verwöhnten Jugendlichen.
Überhaupt scheint das Kernpersonal dieses Werkes laufend unterwegs zu sein. E sowieso – mit seinen diversen, dicht erzählten, wohl auch einmal, wie in der Episode auf dem Bauernhof, zu breit ausgemalten Stationen des Geldverdienens und der Ausbildung. Aber auch unser Reporter der neuen Zeit und ihrer revolutionären Verschlimmbesserungen reist mit Notizheft unentwegt in alle Städte, auch kleine, Ortschaften, Dörfer, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur irgend zu erreichen sind. Als Anthropologe des Umbruchs, als Menschenbeobachter, als Barfuß-Linguist. So entfaltet sich quer durch den ganzen Text ein konkretes, reflektiertes, vielschichtiges Bild von Deutschland in seinem Alltagsleben.
So etwas hat man noch nicht gelesen. Die Fülle unermüdlich zusammengetragener, durchdachter, in allen – nicht zuletzt humoristischen – Tonlagen dargebotener Empirie ist ein Gegengewicht, eine Art Gegengift gegen die Geschichte des armen, konsequenten E und seiner Anstrengungen, seinem Leben einen Sinn zu geben. Die Geschichte endet im Selbstmord. Aber es ist keine schwüle Tunnelgeschichte von Todessehnsucht und Todeskult. Dafür ist hier die Welt zu präsent. Nicht beruhigend gegenwärtig – das deutsche Alltagsleben wirkt nicht unbedingt beruhigend – , aber doch relativierend. Ein Konstruktionsproblem des Werkes liegt eher darin, dass sich die Zeitdiagnose hier verselbständigt und von der Story zu weit löst und entfernt.
Aber dafür ist dieser E auch selber zu hungrig, zu besessen von der selbst gestellten Aufgabe, zu wenig larmoyant. Wie der geforderte, lernende, arbeitende Schauspielschüler zu sich selbst findet und nach den noch stammelnden, gärend-pathetischen ersten Abgrenzungsversuchen in seinem Tagebuch zu einem Urteil über Theater und Texte kommt, gehört zu den Höhepunkten des Romans. In Berlin klaut E sich den ersten Band von Blochs „Das Prinzip Hoffnung“. „Er hatte nicht widerstehen können. Es war ein prächtiges Buch mit dickem weißen Papier und doppeltem Schutzumschlag. Suhrkamp, nicht SBZ. Er wurde nicht erwischt, als er den schweren Band unter seinen weiten grauen Pullover stopfte und unauffällig hinausging, aber er wusste, dass er ein pochend rotes Gesicht hatte, dann rannte er los, über den Ku’damm, panisch hindurch zwischen schlendernden Damen mit Pudeln und Windhunden, bis er in der Untergrundbahn verschnaufte, aber noch einmal Treppen und Bahnsteige wechselte, um mögliche Verfolger zu täuschen.
Schließlich stand er im Aschinger, aß die Erbsensuppe, die umsonst gereichten Brötchen und schlug den dicken gelben Band auf. Er blätterte, zunehmend wütend werdend. Er mochte diese permanente Schelte von Bloch nicht, von dem im Westen so viel die Rede war. Ihn ärgerte, dass Ernst Bloch das ‚bürgerliche Sein‘ ‚einer niedergehenden alten Gesellschaft wie der heutigen im Westen‘ allein verantwortlich machte für Angst, Furcht, die ‚Ausweglosigkeit‘. Das ‚Leergewordene‘, ‚das Unaushaltbarste‘, das ‚Unerträgliche‘, während der Osten wohl die Patente für die ‚ursächliche Abstellung der Furcht-Inhalte‘ besaß. E holte sich noch einen Teller Erbsensuppe und blätterte weiter. In Ostberlin hatte er niemanden gesehen oder getroffen, auf den Blochs Propaganda gepasst hätte.“
Ernst Köhler
Hermann Kinder: Porträt eines jungen Mannes aus alter Zeit,
2016, Roman, gebunden mit Schutzumschlag, 209 Seiten,
978-3-86337-102-9, weissbooks, 20 €
Weder das Buch noch die Rezension sind für alle, und beide sind sie nicht für die Katz.
„Die selbstbestimmte Person denken, ist bereits ein Thema. … Der junge Mensch, dessen kurze, früh und hart abbrechende Geschichte hier erzählt wird, insistiert auf sich als Subjekt – mit fortschreitender Reifung nur rigoroser.“
Sorry, aber wenn ich schon zu Anfang eines Beitrags so was lese, mache ich Schluss mit Lesen.
Dieses bemüht sich abhebende Salbadern der Weichwissenschaftler (=phil. fac.) ist kontraproduktiv – wer, außer anderen Germanisten, Linguisten, Soziologen etc. kriegt Appetit, Texte aufzunehmen, wenn sie so daherschwafeln wie dieser?
Hermann Kinder hat Solideres verdient.