Rocker der Renaissance

Wer glaubt, erst im 20. Jahrhundert seien dem Publikum vor Entsetzen über die zeit­genös­si­sche Musik die Ohren abgefallen, liegt ziemlich daneben. Schon auf Beethovens „Große Fuge“ reagierten manche mit dem (verhaltenen) Ruf nach dem Irrenhaus, aber selbst Ludwig van war letztlich nur ein Titan, der auf den Schultern von Riesen stand. Ein Festival in Konstanz präsentiert im Sep­tember einige seiner Vorgänger: „Europäische Avantgarde um 1400“ ist den Neutönern vor 600 Jahren gewidmet.

„Künstlerische Avantgarde“ ist natürlich ein relativer Begriff, denn ob jemand seiner Zeit vorauseilte, hängt nicht zuletzt davon ab, wo seine Zeit stand. Was heute Avantgarde-Malerei ist und für ein Glas Absinth pro Quadratmeter über den Tresen geht, hängt wenige Jahre und ein abgeschnittenes Ohr später als impressionistischer Klassiker im Museum – verehrt von denselben Leuten, die diesen „Schrott“ gestern noch verbieten wollten (und nun im Bildungstempel neben der Kunst insgeheim auch ihren Lieblingsgötzen, den Mammon, anbeten können).

Was war Avantgarde?

Als Guillaume de Machaut in den 1360er Jahren, also rund 50 Jahre vor dem Konstanzer Konzil, in seiner „Messe de Nostre Dame“ für die Kathedrale zu Reims Messtexte vierstimmig vertonte, war das ein großer Schritt für ihn und für die abendländische Kunstmusik: In der Kirche wurde damals zwar schon im Chor, aber einstimmig gesungen, und der Papst hielt nur wenige Intervalle für Gott wohlgefällig.

Johannes XXII. gar hatte bereits 1324/25 in einer Bulle alles verboten, was nach Fortschritt, nach Ars nova, einer „neuen Kunst“, roch.[1] Machaut allerdings pfiff auf die Vorschriften aus Avignon und hat sich damit in der Musikgeschichte einen Platz unter den großen Neuerern erworben, direkt neben beispielsweise Beethoven oder Schönberg. Er starb übrigens 1377, und seine Messe kann man auch heute noch anhören.

Konkrete Musik

Auf der anderen Seite lausche man einmal der barocken „Battalia“, die der erstaunliche Heinrich Biber 1673 schrieb. Im 2. Satz „Die liederliche gselschafft von allerley Humor“ geht es musikalisch so drunter und drüber, dass man denken könnte, man sei bereits im 20 Jahrhundert gelandet.[2] Doch diese Musik war keinesfalls avantgardistisch. Biber vermerkt im Manuskript: „Hic dissonat ubique nam ebrii sic diversis Cantilensis clamare solent“, was so viel meint wie „diese Stelle ist ganz misstönend, weil Trunkenbolde verschiedene Lieder durcheinandergrölen.“ Was sollte der Landsknecht am Abend vor der für ihn womöglich tödlichen Schlacht auch sonst tun, als besoffen rumzukrakelen, als sei er auf dem Oktoberfest? Doch so entsteht keine Avantgarde, das ist pure Lautmalerei – Musique concrète des 17. Jahrhunderts, noch ganz ohne Tonband.

Erkennt man Avantgarde von 1400?

Wer sich mit der Musik des Mittelalters und der Renaissance wenig auskennt, wird kaum merken, was zur Zeit des Konstanzer Konzils wirklich neue Musik war und was einfach nur mehr oder weniger konventionelles Tralala.

Das macht aber nichts, denn die Reihe „Europäische Avantgarde um 1400“ in Konstanz präsentiert an vier Abenden vom 21.-24. September prominente Ensembles mit so hochkarätigen Konzertprogrammen, dass man Musik des 14. bis 16. Jahrhunderts einfach mal ausgiebig kennenlernen und sein Ohr für das damals Neue schärfen kann. Die meisten Konzerte werden übrigens vom SWR mitgeschnitten und 2018 gesendet, was allein schon ein Qualitätsbeweis ist.

Einen gewissen Lokalbezug haben diese Konzerte auch, denn beim Konzil 1414-1418 und anderen Anlässen fielen natürlich im Gefolge der weltlichen und geistlichen Obrigkeit neben den Hübschlerinnen auch wahre Heerscharen von Komponisten und Musikern in Konstanz ein: Die Kunst geht bekanntlich nach Geld, das war schon damals nicht anders, zumal zeitgenössische Komponisten noch nicht als Lehrer an staatlichen Musikhochschulen ihr Gnadenbrot erhielten.

Choralis Constantinus

Das Auftaktkonzert der Reihe am 21.09. mit dem „Ensemble Cinquecento“ ist Heinrich Isaac gewidmet, der um den Reichstag 1507 herum für Konstanz einige bedeutende Werke schuf und vor just 500 Jahren starb. Das „Sollazzo Ensemble“ präsentiert dann am 22.09. mehrstimmige Vokal- und Instrumentalmusik um 1400, die der Ars subtilior zugerechnet wird, der „verfeinerten Kunst“, wie sie etwa an französischen und spanischen Höfen geschätzt wurde – für diese Herrschaften war natürlich das Beste und Raffinierteste gerade gut genug. Am 23.09. gibt das Ensemble „Tasto Solo“ Instrumentalmusik auf alten Instrumenten wie einer tragbaren Orgel und einem rekonstruierten Clavicymbalum. Mit dem „Orlando Consort“ schließt sich der Kreis am 24.09., wenn die vier Herren in der Dreifaltigkeitskirche unter dem Titel „Popes and Antipopes“ Musik der bis zum Konzil immerhin drei gegeneinander kämpfenden Papsthöfe singen.

Eine Stunde vor Konzertbeginn gibt es jeweils eine unterhaltsame Einführung, die dringend empfohlen sei. Es ist schließlich eine Binsenweisheit, dass wir Musik nicht mit den Ohren hören, sondern mit dem, was zwischen den Ohren sitzt, daher kann ein wenig geistige Aufrüstung für einen solchen Konzertabend nicht schaden.

Harald Borges/PM (Foto: Orlando Consort, aufgenommen von Eric Richmond)


Europäische Avantgarde um 1400
Programm: http://veranstaltungen.konstanzer-konzil.de/on_doc/149276697560.pdf
Datum: 21. bis 24. September 2017
Eintritt: 16 €/12 €, Abendkasse: 20 €/15€
Festivalpass für alle vier Konzerte (nur im Vorverkauf): 55 €/40 € ermäßigt
Vorverkauf: Ab 1. Juni über die Vorverkaufsstellen des Theater Konstanz. Während der Theaterferien vom 30.7.–12.9. sind die Tickets bei der Tourist-Information Konstanz (Bahnhofsplatz 43) erhältlich.


[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_XXII.
[2] https://www.youtube.com/watch?v=5YBOmgi-qSs, ab etwa 1:44.