Spaniens Vergangenheit, die nicht vergehen will

20130211-234244.jpg35 Jahre nach dem Tod des spanischen Diktators lebt Franco weiter. Oder zumindest sein Geist. Zu diesem Befund kommt der Autor Georg Pichler in einem neuen Buch, in dem er Spaniens unbewältigte Vergangenheit seziert. In „Gegenwart der Vergangenheit“ wird Francos unheimliche Präsenz überdeutlich: In der Justiz, in der Kirche, in der Politik und nicht zuletzt noch immer in den Köpfen fand transición nicht wirklich statt: Spanien braucht eine demokratische Erneuerung

Vor zwei Jahren wurde Spaniens berühmtester Richter Baltasar Garzón wegen angeblicher Rechtsbeugung aus dem Amt gejagt. Er hatte die Verbrechen des Franco-Regimes untersuchen wollen. Der Fall erregte weltweit Aufsehen. Warum bloß wird ein Richter seinen Job los, wenn er doch nur seinen Job tut? Das fragten sich viele. Und auch noch dies: Was ist los mit der Demokratie in Spanien?

Wer verstehen will, was in Spaniens Politik und Gesellschaft läuft, ist bei Georg Pichler am richtigen Ort. Pichler ist Professor für deutsche Sprache und Literatur in Madrid und ein ausgewiesener Kenner der spanischen Geschichte. In seinem soeben erschienenen Buch zieht er eine beunruhigende Bilanz. Unter dem Titel «Gegenwart der Vergangenheit» beleuchtet er die Kontroverse um Bürgerkrieg und Diktatur.

Zwar liegen sowohl der blutige Konflikt (1936-1939) als auch die nicht minder blutige Franco-Diktatur (bis 1975) schon Jahrzehnte zurück. Doch der Ungeist dieser Epoche ist noch heute allgegenwärtig und prägt die Tagespolitik. Für das Bonmot von einer Vergangenheit, die nicht vergehen will, scheint Spanien das Paradebeispiel.

Einst hochgelobt für den friedlichen Übergang von der Diktatur zur Demokratie, der so genannten «transición», entpuppt sich der scheinbar problemlose Machtwechsel immer deutlicher als Mythos. Von wirklicher Versöhnung kann keine Rede sein. Spaniens Gesellschaft bleibt tief gespalten und, anders als in Deutschland, die faschistische Vergangenheit unbewältigt. Wie soll sie auch, wenn kein einziger Scherge des Franco-Regimes für seine Taten je zur Rechenschaft gezogen wurde? Wenn die zahllosen Todesurteile, die Franco bis zuletzt unterschrieb, nie aufgehoben wurden? Und wenn laut der Schätzung der Memorialbewegung immer noch weit über 100 000 unidentifizierte Tote in Massengräbern liegen? Für ein westeuropäisches Land – nicht Balkan, nicht Kambodscha –
schlicht eine Ungeheuerlichkeit.

Sorgfältig und mit Bedacht legt Pichler die Wurzeln der Probleme frei. Er zeigt auf, wie erst heute dank hartnäckigen ForscherInnen das ganze Ausmaß des franquistischen Terrors deutlich wird. Der Historiker Francisco Espinosa Maestre spricht von einem Genozid, den die Militärs damals angerichtet haben. Alles, was an Demokratie gemahnte, sollte mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden. Die katholische Kirche gab dazu den Segen, weil ihr die Diktatur die Rückgewinnung verlorener Machtpositionen versprach. Und sie machte aus der Repression noch ein Geschäft: Eine «Kloster- und Klinikmafia» nahm republikanischen Eltern an die 30 000 Kinder weg und verkaufte sie bis in die 1980er Jahre an regimetreue Paare. Das Drama der «niños robados» füllt seit Monaten die Spalten der Zeitungen.

Was die «transición» mit ihrem staatlichen Pakt des Schweigens versäumte, hat die Zivilgesellschaft in die Hand genommen. Bewegungen wie die «Asociación para la recuperación de la memoria histórica» führen Exhumierungen von Massengräbern durch. Sie geben damit den verscharrten Toten und ihren Familien nicht nur die verlorene Würde zurück, sondern leisten Aufklärung über das, was einst geschah, aber für immer verborgen bleiben sollte. Kein Wunder, rühren sie mit ihrer Tätigkeit doch an einen Nerv der spanischen Gesellschaft. Zu viele leben noch, die auf die Straflosigkeit ihrer Untaten gebaut haben und nun befürchten müssen, dass sie doch noch ans Licht kommen.

In den Machtzirkeln Spaniens ist der Franquismus nach wie vor präsent. Vor allem in der rechten Volkspartei von Ministerpräsident Mariano Rajoy, die jetzt mit absoluter Mehrheit regiert und auf dem Rücken der Bevölkerung brutale Sparprogramme durchzieht. Das Berufsverbot gegen Garzón verhängten konservative Richter, die im Geiste Francos urteilen. Revisionistische Literatur, die den Caudillo wieder als Retter vor dem Kommunismus preist, überschwemmt den Markt.

Pichler interviewt den Journalisten Pio Moa und den Anwalt Jaime Alonso, Präsident der Franco-Stiftung. „Franco ist der beste Politiker, den Spanien in den letzten beiden Jahrhunderten hatte“, tönt Moa, der übrigens früher Maoist und ein Linksterrorist war. Und Alonso, der eine rechtsextreme Gewerkschaft präsidiert, hält das Vermächtnis des Diktators für „beeindruckend“. Beide Interviews sind in ihrer radikalen Selbstentlarvung so deutlich wie bedrückend.

Georg Pichlers Buch bringt die komplexe Realität Spaniens auf den Begriff. Als zeitgenössischer politischer Reiseführer nach Südwesteuropa ist es unentbehrlich. Die beiden letzten WoZ-Leserreisen führten nach Barcelona und boten Anschauungsunterricht über ein keineswegs befriedetes Land. Wer sie verpasst hat, kann sich mit dem Buch von Georg Pichler trösten. Oder selber nach Spanien reisen.

Autor: Ralph Hug/WOZ

Georg Pichler, Gegenwart der Vergangenheit. Die Kontroverse um Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien, Rotpunktverlag Zürich 2013, 330 Seiten, ca. Fr. 32