Tierbilder und Tiermythen auf dem Prüfstand

Wie menschlich sind Tiere? Warum galt der Wolf als das „gräßlichste“ aller Tiere? Welche Rolle spielen Drachen in der Zoologie der frühen Neuzeit? Woher kommen die Krokodilstränen? Können Hunde und Katzen Mitgefühl zeigen? Besitzen einige Vogelarten ein Personengedächtnis? Fragen über Fragen. Antworten darauf gibt es derzeit im Städtischen Museum Überlingen zu sehen, lesen und erleben. Die Sonderausstellung liefert interessante Einblicke und erstaunliche Erkenntnisse.

Zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum widmet sich hier eine Ausstellung der faszinierenden Kulturgeschichte des Tierbildes aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Dabei geht es nicht nur um das künstlerische Tierbild, sondern auch um das geistig-kulturelle, gesellschaftliche sowie zoologische Tierbild im Wandel der Epochen. Ein zentrales Themenfeld bildet die Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung. Exakt 88 attraktive und kostbare Exponate und Leihgaben aus diversen privaten und öffentlichen Sammlungen präsentieren eine Fülle an überraschenden Bildmotiven und Einblicken. Die ältesten Exponate stammen aus dem 15. Jahrhundert. Zur Ausstellung ist ein umfangreiches Katalogbuch erschienen.

Malende Schimpansen und lachende Ratten

Ein zentraler Ausgangspunkt dieser Ausstellung ist die immer noch höchst umstrittene Frage, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Diese Frage beschäftigt die Menschen seit Jahrtausenden. Und die Zoologen bis heute. „Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus“, formulieren Max Horkheimer und Theodor Adorno in ihrer epochalen „Dialektik der Aufklärung“ mit Blick auf die Kulturgeschichte seit der Antike. Die gegenwärtige zoologische Forschung betont hingegen, dass Menschenaffen und andere besonders intelligente Tierarten über nahezu alle Eigenschaften verfügen, von denen man früher dachte, dass diese Eigenschaften ausschließlich den Menschen vorbehalten wären: Fähigkeiten wie Bewusstsein, Sprache und Denken, Träumen, Humor, Moral, Empathie und Mitgefühl, strategische Intelligenz und experimentelles Lernen, Abstraktionsvermögen, Spiellust, Freude und Trauer, Lügen, Eifersucht, Freundschaft, lebenslange Paarbeziehung, Werkzeuggebrauch (mittlerweile sogar bei einzelnen Delfinen nachgewiesen), variable Werkzeugherstellung, und schließlich: ästhetisches Empfinden, das bei den Werberitualen der Laubenvögel auf Neuguinea besonders verblüfft. Schon Charles Darwin (1809–82) ist von einem beachtlichen ästhetischen Leistungsvermögen mancher Tierarten überzeugt: „Es kann kaum bezweifelt werden, dass viele Thiere im Stande sind, schöne Farben und selbst Formen zu würdigen.“ Einzelne Zoologen der heutigen Zeit glauben sogar an eine primitive „Kunstsinnigkeit“ (eine allgemein sehr skeptisch beurteilte Spekulation), die unter anderem an mehreren malenden Schimpansen zu beobachten sei. Einer der ersten malenden Schimpansen ist Congo, der mit seiner Pinselmalerei im Jahr 1963 weltberühmt wird.

Die moderne wissenschaftliche Tierforschung weist bei immer mehr Tierarten immer menschlichere Züge nach: So gibt es z. B. nicht nur lachende und kitzlige Menschenaffen, sondern auch lachende Ratten, die gekitzelt werden wollen. Und solche Ratten, die an depressiven Stimmungen leiden. Das Tier liebende Publikum unserer Epoche sehnt sich nach immer neuen Sensationsmeldungen, die möglichst viele Tierarten dem Menschen immer näher bringen sollen.

Können Kühe Heimweh haben?

Und welche Antworten auf diese Frage verbreiten die Lehrbücher vergangener Epochen? De Buffon, der meistgelesene Zoologe des 18. Jahrhunderts, verkündet: „…Bloß durch die Seele sind wir [Menschen], was wir sind. In ihr allein liegt der Grund von der Unterschiedlichkeit unserer Charaktere und von der Mannigfaltigkeit unserer Handlung. Die Tiere hingegen, welche sich KEINER Seele rühmen dürfen, haben auch nicht das eigentlich sogenannte ICH, diesen Grund alles Unterschiedes, diese Ursache, die eigentlich die PERSON ausmachet.“ Die Epoche der Romantik hingegen entwickelt ein neues Tierbild: „Alle Säugethiere haben viel Seele: Wahrnehmungskraft, Gedächtniß, Einbildungskraft, […] Formen- und Tonsinn, viel Denkkraft, Empfindungsfähigkeit für Freude und Schmerz… Sie haben ein Bewußtseyn, also auch einige Persönlichkeit“, erkennt Julius Juch 1846, der manchen Tieren sogar die Fähigkeit bescheinigt, Trauer und Heimweh zu empfinden: „Die Schweizer-Kühe werden nicht selten auch vom Schweizer-Heimweh geplagt.“ Auch Wilhelm Wundt bescheinigt den Tieren 1863 allgemein eine relativ hoch entwickelte „Thierseele“, denn „an den Tieren beobachten wir ja Erscheinungen, die auf ein Empfinden, Fühlen, Vorstellen und sogar auf ein Denken hinweisen“. Darüber wird über Jahrzehnte hinweg intensiv und kontrovers diskutiert, inner- wie außerhalb der akademischen Zirkel. Nach Peter Scheitlin (1840) geht es bei der anhaltenden Debatte um den „Streit, ob die Thierseele eine andere Art Seele, oder nur ein geringerer Grad von Menschenseele sei“.

Die im 19. Jahrhundert vor Darwin gängige, wenngleich keineswegs unumstrittene Lehrmeinung formuliert Christian Gottfried D. Stein (1771–1830) mustergültig in seinem „Handbuch für Naturgeschichte für die gebildeten Stände, Gymnasien und Schulen“, das viele Neuauflagen erlebt: „Erste Ordnung. Zweihändiges Säugethier, Bimanus. Der Mensch, Homo, ist unter allen Geschöpfen der Erde durch körperliche und geistige Vorzüge ausgezeichnet, die aber erst durch Erziehung ausgebildet werden. Der aufrechte Gang, der Gebrauch zweier vollkommener Hände, die Sprache und die Vernunft unterscheiden ihn von allen Geschöpfen.“ Auch dieser Aspekt, die Betonung der menschlichen Vernunft als entscheidendes Distinktionsmerkmal, ist alles andere als neu. Darüber wird schon in der griechischen Antike kontrovers diskutiert. Die Philosophenschule der Kyniker betont in den tierphilosophischen Debatten allerdings die Verwandtschaft und enge Beziehung zwischen Mensch und Tier. In der frühen Neuzeit ist es allen voran der Schriftsteller Michel de Montaigne (1533–92), der in seinen berühmten Essais von 1580 die Menschlichkeit der Tiere hervorhebt, genauer: die Ähnlichkeit des Menschen mit den Tieren (Essais II, 12). Gegen seine Thesen protestiert der nüchterne René Descartes (1596–1650), für den Tiere lediglich Maschinen sind.

Erkenntnisse der „Thierseelenkunde“

In den Jahren um 1800 entsteht nicht nur der Begriff der „Thier-Psychologie“, die neue akademische Disziplin wird auch von mehreren – heute vergessenen – Forscherpionieren auf einer empirischen Basis von Beobachtung und Experiment erstaunlich intensiv betrieben. Eine dieser frühen Initiativen zur Erforschung der psychischen Innenwelt der Tiere bildet Wenzels umfangreiche Untersuchung über die „Sprache der Tiere“, die im Jahr 1800 in Wien erscheint. Der Autor, Gottfried Immanuel Wenzel (1754–1809), ist seit 1800 Professor am K.K. Lyceum in Linz. Eine bedeutsame, im frühen 19. Jahrhundert viel beachtete Quellensammlung von überlieferten und dokumentierten Beobachtungen erstaunlicher Tierbegabungen und Verhaltensweisen findet sich in der zweibändigen Thierseelen-Kunde, die 1804 und 1805 in Berlin erscheint. Ihr Verfasser mit den Initialen DH (möglicherweise ein erfundenes Monogramm) will anonym bleiben; der Verleger ist Carl August Matzdorff (1765–1839) – ein zeitweise vermögender, heute vergessener Verleger mit einem gewissen Spürsinn, den er als Entdecker und Förderer des durch ihn zu Ruhm gelangten Schriftstellers Jean Paul beweist. Der unbekannte Verfasser der Thierseelen-Kunde widerspricht unter anderem der gängigen Vorstellung, dass allein der Mensch vernunftbegabt sei, sondern vertritt die Ansicht, „daß alle Thiere, in gewisser Rücksicht, vernünftige [intelligente] Wesen sind.“

Das erstaunliche Gedächtnis der Rabenkrähen

In der Thierseelen-Kunde werden nicht nur die von der breiten Leserschaft geliebten Tierarten wie Hunde, Katzen, Papageien und Affen untersucht, sondern auch unpopuläre Tiere wie Ratten, Rabenkrähen, Fledermäuse – und sogar Insekten: „Selbst bei den kleinsten Insekten sind Spuren menschlicher Vernunft [Intelligenz] zu bemerken“, betont der Verfasser. Tatsächlich widmen sich in den folgenden Jahrzehnten mehrere Naturforscher dem Phänomen der Staatenbildung bei Insekten, außerdem gibt Peter Scheitlin im Jahr 1840 eine neue Vollständige Thierseelenkunde heraus, die auf der Pionierleistung von 1804–05 anknüpft. Zurück zu letzterer: In einem Fallbeispiel zu den Rabenkrähen beschäftigt sich der anonyme Verfasser von 1804–05 mit dem frappierenden Personengedächtnis von Rabenkrähen, die sich das Gesicht einzelner Menschen einprägen können und den betreffenden Menschen nach Jahren wiedererkennen können – eine erstaunliche Fähigkeit von Rabenkrähen, die von der modernen Tierforschung (zumindest für amerikanische Rabenkrähen) bestätigt wird. Die Themen der auch im 21. Jahrhundert noch immer höchst lesenswerten Thierseelen-Kunde von 1804–05 sind vielfältig und tragen Überschriften wie z.B. „Der gutherzige Canarienvogel“, „Besondre Stiefmutter-Sorgfalt einer Henne“, „Rattenliebe zu den Eltern“, „Mutterliebe beim Kamel durch Musik erweckt“ – oder auch: „Eifersucht und Freundschaft einer Gans“. Spätestens hier, bei den Gänsen, ist zu überdenken, ob man den berühmten Nobelpreisträger und Gänsevater Konrad Lorenz weiterhin als „Gründervater der Tierpsychologie“ bezeichnen darf.

Tierliebe: Älter, als man glaubt

Ist demnach nicht nur die Tierpsychologie, sondern auch die modern anmutende Tierliebe eine Erfindung der Frühromantik um 1800? Oder existierte die Tierliebe doch schon seit Jahrtausenden, seit dem Beginn von Viehzucht und Domestizierung? In den erwähnten Schriften von Michel de Montaigne glauben wir zu spüren, dass er bzw. der fiktionale Erzähler Tiere wohl aus tiefem Herzen liebt. Und in einigen didaktischen Schriften der frühen Neuzeit finden wir recht konkrete Hinweise auf einen liebevollen Umgang von Menschen mit ihren Tieren. Seine Tiere zu „lieben“, empfiehlt beispielsweise der Autor Andreas Glorez im Jahr 1699 allen angehenden Stall- und Pferdeknechten.

Weitere Indizien liefern die seit dem Mittelalter kultivierten Legenden, Mythen, Sagen und Überlieferungen – und nicht zuletzt so manche klassische Tierdichtung, in denen die treue Liebe einzelner Menschen zu ihren Tieren zur Sprache kommt. Auch die verschiedenen spätmittelalterlichen Legenden über die Vogelpredigt des hl. Franz von Assisi und dessen Umgang mit den Tieren, etwa mit dem Wolf von Gubbio, könnten – jenseits ihres allegorischen Sinngehalts – mit einer gewissen Vorsicht auch als frühe Beispiele dafür gewertet werden, dass die Tierliebe keine Erfindung der frühmodernen Gesellschaft ist. Das Phänomen der Tierliebe könnte vielleicht sogar von Anfang an zum Menschsein gehört haben, freilich in sehr unterschiedlichen Ausprägungen – man denke dabei am Rande auch an die frühesten Höhlenmalereien der Altsteinzeit, deren Erforschung in diesen Jahren neue Impulse erfährt, aufgrund spektakulärer Neuentdeckungen im heutigen Brasilien. Die psychische Grundstruktur des Menschen hat sich seit der (Jung-)Steinzeit vermutlich kaum verändert. Diese Ansicht vertrat schon Charles Darwin. Gleichwohl war und ist das Mensch-Tier-Verhältnis stetigen und dabei auch strukturellen Änderungsprozessen unterworfen. Das lässt sich beispielsweise an der Geschichte der Tiergärten und Zoos deutlich ablesen. Und nicht zuletzt zeigt die Entstehung von Tierschutzvereinen wie etwa 1837 in Stuttgart (die älteste deutsche Tierschutzorganisation) oder 1865 in München, dass das Mensch-Tier-Verhältnis in der bürgerlichen Gesellschaft Veränderungen erlebt. Bis heute.

Michael Brunner

„Vom Drachen bis zur Friedenstaube. Tierbilder und Tiermythen vom Mittelalter bis heute“. Städtisches Museum Überlingen. Die Sonderausstellung läuft noch bis 17. Dezember 2017.

www.ueberlingen.de