Traumleserin, Sprachspielerin
Ein Prosa schreibender Lyriker hat jüngst erklärt, Romanciers bauten ihre Romane durch die Handlung auf, Lyriker mit der Sprache. Sprache in all ihren Varianten ist auch zentral im Oeuvre der in Mailand geborenen, in Bern lebenden Donata Berra. Nicht die Idee, der Gedanke stünden am Anfang ihrer Gedichte, zitiert Pietro de Marchi sie in seinem Nachwort, vielmehr das „Wort“, „ein aufgefangener Satzfetzen“, „eine Emotion“, seien der „Kern“, der Nukleus eines sprachlichen Gebildes, von dem man am Anfang noch nicht wisse, ob und wohin es sich beim Schreiben entwickle.
Die nun auf Italienisch und Deutsch vorliegende Auswahl ihrer Gedichte enthält neben wenigen zum ersten Mal gedruckten Gedichten Texte aus ihren bisher vorliegenden vier Gedichtbänden (von denen der Rezensent in den späten neunziger Jahren zwei ebenfalls zweisprachige für den Waldgut Verlag übersetzt hat). Ein schmales Werk, das es indessen in sich hat. Keine leicht kosumierbaren Gedichte begegnen uns in dem Band, kein lyrisches fast food, kein Zugeständnis an eine Postmoderne, in der alles erlaubt ist. Berras Gedichte sind schwierig, erfordern konzentrierte und wiederholte Lektüre und belohnen mit unerwarteten Volten und einer äußerst melodiösen Sprache. Sie baut dialektale Sequenzen ein, zitiert ungenannt Mozart – Libretti, Petrarca oder Giambattista Vico.
Spottgedichte, Sprachspiel, Ironie, aber auch ein tiefer Ernst, so gar nicht licht mediterran à la Valéry, prägen ihre Poeme. Dimmelo dammelo ombra di Vico / dammelo molle morbido fico (Sag’s mir verrat’s mir , Schatten von Vico / gib sie mir, fruchtige, frisch feuchte Feige) einerseits. Und andererseits eine mitteleuropäisch gespeiste Austerität, etwa in dem Gedicht Milano, in dem es zum Schluss einer Reise von Norden in den Süden heisst: … e ti riprende / la struggente fierezza, il male austero / di chi Milano sa, la taciturna (und es packt / dich erneut der verzehrende Stolz, der gestrenge / Schmerz dessen, der Mailand, das schweigsame, kennt.). Der Kern ihrer Gedichte, zu dem sie intellektuell und emotional vorstößt, entwickelt ganz singuläre Sprachbilder, die häufig einer abgesunkenen Mythologie, gebrochenen biblischen Szenarien, der Musik oder dem Fundus kollektiver Kulturgeschichte und -erinnerung entstammen.
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Allein die Wirklichkeit der Poesie vermag unserer Existenz ohne gesicherte und dauerhafte Wahrheit so etwas wie eine hypothetische, ersonnene metaphorische Ordnung zu verleihen. Das schöne, leider nicht in diese Auswahl aufgenommene Gedicht von dem zweiten Hahn (Gallo), „der als Banner den Tod trüge /und in der Seele ein Aufenthaltsverbot“, veranschaulicht das poetologische Programm, das die herbeigesehnte Rettung der Welt spielerisch und klug in den ästhetischen Konditional versetzt: „und die Welt wäre, aber nur dann / und die Welt wäre, als Metapher / in Ordnung.“
Der erfahrene Übersetzer Christoph Ferber löst die schwierige Aufgabe der Übertragung souverän, indem er im Zweifelsfall dem Wortlaut des italienischen Originals folgt anstatt sich auf das Glatteis von originalem Ton und Rhythmus einzulassen, die, so vielleicht seine Überzeugung, allein der Dichterin, dem Original zustehen.
Jochen Kelter (Bild: Limmat Verlag)
Donata Berra: Maddalena – Gedichte Italienisch und Deutsch
ausgewählt und übersetzt von Christoph Ferber.
Nachwort von Pietro De Marchi.
Limmat Verlag, 2019. 144 S. gebunden mit Schutzumschlag, 38.00 CHF/Euro.