Über Vereinsamung
Zwei bemerkenswerte Bücher stellt der Konstanzer Historiker Ernst Köhler zur rechten Zeit vor: In diesem Monat jährt sich die Deportation Konstanzer Juden. Über die Vereinsamung überlebender Jüdinnen und Juden berichten die Bücher und über die Schwierigkeiten, nach dem Gräuel wieder ins Leben zu finden. Diese einzigartigen Zeugnisse von letzten Holocaust-Überlebenden dürfen nicht übersehen, nicht vergessen werden. Denn auch in diesen Tagen suchen Hunderttausende vor Terror und Verfolgung wieder Zuflucht in rettenden Staaten…
„Selbst jene, die den Krieg erlebten, Zeugen von Massakern wurden, mit Leichen übersäte Felder oder mit Körpern gefüllte Massengräber sahen, können das wahre Ausmaß der Massentötung, die in Europa stattfand, nicht begreifen… Die vielleicht einzige Möglichkeit, sich einem Verständnis des Geschehenen anzunähern, besteht darin, den Versuch aufzugeben, sich Europa als ein von Toten bewohnten Kontinent vorzustellen, und es stattdessen als ein weites Land zu betrachten, in dem man überall Abwesenheit spürt. Fast jeder Mensch, der den Krieg überlebte, hatte Freunde oder Verwandte verloren… Nicht die Gegenwart des Todes prägte die Atmosphäre in Nachkriegseuropa, sondern die Abwesenheit jener, die einst die Wohnzimmer, Läden, Straßen und Märkte des Kontinents bevölkert hatten.
Manche Abwesenheit machte sich besonders deutlich bemerkbar. Die größte Lücke hatten die Juden hinterlassen, vor allem in Osteuropa. In einem Interview für das Oral-History-Projekt des Imperial War Museums in London hat Edith Baneth, eine jüdische Überlebende aus der Tschechoslowakei, beschrieben, wie diese Abwesenheit noch heute zu spüren ist:
Wenn wir an die Familien denken, die wir verloren haben, ist das nie wieder gutzumachen. Sie können nicht ersetzt werden – die zweite und die dritte Generation spüren es noch. Bei Hochzeiten und Bar-Mizwa-Feiern kommen bei anderen Familien vielleicht 50 oder 60 Verwandte. Als mein Sohn seine Bar-Mizwa und seine Hochzeit feierte, kam kein einziger Angehöriger – so spüren die zweite und dritte Generation den Holocaust. Es fehlt ihnen die Familie. Mein Sohn kennt kein Familienleben, er weiß nicht, wie es ist, Onkel, Tanten, Großmütter, Großväter zu haben. Da ist nur dieses Loch.
Während die meisten Menschen im Jahr 1945 die Angehörigen und Freunde zählen, die sie im Krieg verloren hatten, zählten die jüdischen Überlebenden jene, die übrig geblieben waren. Manchmal gab es niemanden mehr.“
Das steht in dem bekannten Buch des britischen Historikers Keith Lowe über das Fortwirken der Gewalt und Menschenverachtung in allen Formen noch Jahre über das Kriegsende hinweg. (dt. Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943–1950, Stuttgart 2014 bei Klett-Cotta). Der vom Verlag gewählte Titel ist irreführend (im englischsprachigen Original lautet er Savage Continent), aber sonst ist das Werk von Stephan Gebauer und Thorsten Schmidt vorzüglich übersetzt. Für mich ist die zitierte Passage der Höhepunkt des gesamten Textes. Sie führt schlagend vor Augen, was Imagination, was imaginative Geschichtsschreibung ist. Norbert Frei, einem zu Recht hochangesehenen deutschen Zeithistoriker, muss sie entgangen sein; denn er hat das selten gedankenreiche und wohl dokumentierte Buch in einem Besprechungsessay für die NZZ knapp und dümmlich abgetan.
Aber das – die Kritik dieser Sorte von Kritik – ist nur Frust. Lieber hier noch eine weitere Quelle, die Keith Lowe in diesem Kontext anführt:
„Einmal mehr sagen uns die Statistiken wenig, bis wir beginnen, darüber nachzudenken, was diese Verluste tatsächlich für die Menschen bedeuteten. Alicia Adams, eine Überlebende aus dem polnischen Drohobycz, beschreibt ihre Erlebnisse mit schockierend klaren Worten:
„Nicht nur meine Eltern, Onkel, Tanten und mein Bruder, sondern alle meine Kindheitsfreunde und sämtliche Menschen, die ich als Kind kannte – die ganze Bevölkerung von Drohobycz, etwa 30 000 Menschen, wurde ausgelöscht. Sie wurden alle erschossen. Es wurden nicht nur meine engsten Angehörigen getötet, ich sah alle Einwohner sterben. Ich sah jeden Tag , wie jemand getötet wurde – das gehörte zu meiner Kindheit.“
Ein Brief nach Auschwitz
Eine ganz andere Dimension der einzigartigen Einsamkeit, der sich die überlebenden Juden im Europa von 1945 gegenüber sahen, umreißt Marceline Loridan-Ivens (s. Teaserbild) in ihrem soeben auch auf deutsch erschienenen Lebensbericht „Und du bist nicht zurückgekommen“. (Aus dem Französischen übersetzt von Eva Moldenhauer, Berlin 2015, bei Insel.) Wie der Anmerkung des Verlags zu entnehmen, ist die Autorin, geboren 1928 als Marceline Rozenberg, 1944 mit ihrem Vater nach Auschwitz-Birkenau deportiert worden. Ihr Vater überlebte nicht. Später hat sie zusammen mit ihrem Ehemann Joris Ivens Dokumentarfilme – auch über den Vietnamkrieg – gedreht. Sie lebt heute in Paris. Der Text hat die Form eines Briefes an den in Auschwitz – zunächst unwissend – verlorenen Vater. Sie erlaubt einen sehr persönlichen, intimen Ton. Aber der Text bleibt eine schlanke, äußerst kondensierte Skizze. Es gibt keinerlei autobiografische Breite. Es ist große Literatur. Auch hier wieder nur ein Zitat:
„Schon ein Jahr lang waren sie befreit, als ich eingetroffen bin. Mama war häufig abwesend, sie versuchte, all das, was uns gestohlen worden war, und ihren Laden in Epinal wiederzuerlangen, um ein wenig Geld zu verdienen. Henri war in Paris und im Begriff zu heiraten, noch berauscht von den Monaten, die er bei den Freien Französischen Streitkräften verbracht hatte, und getragen von jener an Gedächtnisschwund leidenden, antisemitischen Nachkriegszeit, die sich ein heldenhaftes Frankreich erzählte und jeder meiner Erinnerungen mit Verleugnung begegnete.“
Es war also nicht nur eine Verlassenheit der aus Birkenau in ein Frankreich des Wiederaufbaus und Vergessens Zurückgekehrten – Jean Améry hätte gesagt: in ein Land der naturwüchsig-vitalen kollektiven Wundheilung und Vernarbung. Es war auch eine Verlassenheit der Überlebenden von Birkenau unter den Juden, die von der Deportation in ein Vernichtungslager verschont geblieben waren:
„Sehr rasch hat Mama mich mit leiser Stimme gefragt, ob ich vergewaltigt worden sei. War ich noch rein? Tauglich für die Ehe? Genau das bedeutete ihre Frage. Diesmal habe ich es ihr übelgenommen. Dort waren wir keine Frauen mehr, keine Männer mehr. Wir waren das dreckige Judenpack, ‚Stücke‘, stinkendes Vieh. Nackt zogen sie uns nur aus, um den Zeitpunkt unserer Tötung zu bestimmen. – Aber dieser Wahnsinn der Juden nach dem Krieg, um jeden Preis wiederaufzubauen, war intensiv, heftig, wenn du wüsstest. Sie wollten, dass das Leben wieder seinen Gang nimmt, seine Zyklen wiederfindet, alles ging bei ihnen so schnell. Sie wollten Hochzeiten, sogar mit Abwesenden auf dem Foto, Hochzeiten, Paare, Lieder und bald Kinder, um die Leere ausfüllen. Ich war siebzehn, niemand hat daran gedacht, mich wieder in die Schule zu schicken, und ich hatte nicht die Kraft, darum zu bitten. Ich war ein Mädchen, bald würden sie mich verheiraten… Warum war ich, in die Welt zurückgekehrt, unfähig zu leben? Es war wie ein blendendes Licht, nach Monaten im Dunkeln, es war gewaltsam, die Leute wollten, dass alles wie ein Anfang aussieht, sie wollten mich aus meinen Erinnerungen reißen, sie hielten sich für logisch, im Einklang mit der vergehenden Zeit, für das sich drehende Rad, aber sie waren verrückt, nicht nur die Juden, alle Welt! Der beendete Krieg zerfraß uns alle von innen her.“
Ernst Köhler (Foto: Maxime Grossier, flickr.com)