UTOPIA – Jazz als Weckruf. Das neue Album von Bernd Konrad und Ilja Ruf
In seinem Jubiläumsjahr erhebt der 75jährige Musiker Bernd Konrad wieder seine Stimme auf einem neuen Jazzalbum. Im musikalischen Zwiegespräch mit dem erst 21jährigen Ilja Ruf macht er sein musikalisches Credo noch einmal deutlich und demonstriert, wie Jazz gesellschaftlich und politisch wirken kann und dies auch muss.
In acht Improvisationen blicken der Pianist und der Saxophonist von unterschiedlichen Perspektiven auf die Welt. Da ist die Jugend, die ihre Zukunft als existentiell bedroht deutlich artikuliert und da ist die Nachkriegsgeneration, die den Faschismus hinter sich glaubte und nun erkennen muss, dass er wieder an Popularität gewinnt.
Bernd Konrad trifft auf eines der aktuell spannendsten Nachwuchstalenten der deutschen Jazzszene. Ilja Ruf wurde im Juni der Förderpreis der Jazzbaltica, der IB.SH. Jazz Award durch Nils Landgren überreicht. Sein im letzten Jahr veröffentlichtes Solo-Debutalbum „Ilja_19 acoustic album“ wurde für den Preis der deutschen Schallplattenkritik nominiert. In ausschließlich eigenen Songs und Kompositionen präsentierte er sich als ein äußerst kreativer, energetischer, virtuoser und berührender Pianist und Sänger, der sich mit seiner Musik tänzerisch zwischen Jazz, Worldmusic und Pop selbstverständlich bewegt. Das jetzt erscheinende Duo-Album UTOPIA ist anders. Dieses Album ist Jazz pur. Improvisation in ihrer reinsten Form. Die beiden Musiker kannten sich vor den Aufnahmen nicht. Sie trafen sich im Studio zum ersten Mal, tauschten musikalische Skizzen und Gesprächsthemen aus und begannen, sich über diese zu unterhalten, musikalisch zu unterhalten, also zu improvisieren!
Aufgewachsen in einer selbstverständlich friedvollen Umgebung, treibt den jungen Musiker Ilja Ruf eine große Neugierde an, zu ergründen, was es mit dem Jazz auf sich hat, was Freiheit bedeutet, Freiheit in der Musik und in der Gesellschaft und was beides miteinander verbinden könnte. Was liegt da näher, als die Großelterngeneration nach ihren Erfahrungen mit Jazz zu befragen, die Musikerinnen und Musiker, die in der Zeit der großen gesellschaftlichen Umbrüchen und des Free Jazz erwachsen wurden. So entstand die Idee zu der Reihe „Dialogues in Jazz With My Grandparents“, dessen erster Dialogpartner Bernd Konrad sofort und spontan zusagte, seine Vorstellungen von Jazz mit der jüngsten Musikergeneration zu teilen.
Das erste Stück „Quo vadis?“ eröffnet das Album mit einer philosophischen Frage: Wohin bewegt sich die Welt? Wohin gehst Du? Wohin gehen wir? Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Album: vom vermeintlichen Wintermärchen in Quatar über die Flucht aus Kriegsgebieten bis ins Land Utopia.
Es ist erstaunlich, wie gut und wie schnell Bernd Konrad und Ilja Ruf musikalisch miteinander ins Gespräch kommen. Und wie deutlich offenbar wird, was die Voraussetzungen für einen guten Dialog sind: Zuhören – Reagieren – Agieren. Musikalisch bleibt sich Bernd Konrad treu. Der unverwechselbare Sound seiner Saxophone, seine teils experimentellen und perkussiven Klänge treffen einem beim Hören unmittelbar – auch seinen pianistischen Partner.
Ilja Ruf beginnt davon inspiriert, das Innere des Flügels zum Perkussionsinstrument umzuinterpretieren und Konrads ergreifende Klänge in rollende Grooves einzubetten, so zu hören im zweiten Albumtrack mit dem rätselhaften Titel „Ein Wintermärchen ؟“, ein klares Statement zur aktuellen Fußball-Weltmeisterschaft in Quatar.
Ilja Rufs Klavierspiel zeugt von einer ungewöhnlichen Reife. Wie er den Flügel atmen, brummen, ächzen und jubeln lässt, ist mehr als erstaunlich. Deutlich wird, dass er Musik ganzheitlich denkt. In der Solo-Klavier Improvisation „Konferenz“ zeichnen polyphone Linien, expressionistische Harmonien, hämmernde Rhythmik den Verlauf von politischen Gesprächsrunden nach. Das Verharren der Gesprächspartner in ihren Positionen, die geringe Kompromissbereitschaft und die Angst vor folgenreichen Entscheidungen führen zu einem frustrierenden Konferenzergebnis, wie der Abschlussbericht aus Scharm El-Scheich aktuell wieder deutlich macht. Bei den einen führt dies zu tiefer Resignation, die anderen werden radikal. Bernd Konrads Improvisationsskizze „Entzünden“, die unmittelbar an „Konferenz“ anschließt, führt beides vor. Was es bedeutet, wenn das Feuer brennt, lässt sich an dessen Folgen sehen bzw. hier hören. Track 5 „Flucht“ zeigt Verzweiflung und Leere, Gewalt und Hoffnung.
Wenn Bernd Konrad inmitten seiner Soloimprovisation „Hymnus Ukraine“ die ukrainische Nationalhymne zitiert, fällt es schwer, seine Anklage an den Aggressor und seine Solidarität mit den Angegriffenen zu überhören. Multiphone schrille Sounds rütteln uns wie ein Alarmsignal auf.
In „Aus der Luft“ wirken Klavier-Klangkaskaden wie ein Bombengewitter, bis sich aus dem Untergrund eine pochende Stimme erhebt. Wie aus einer höheren Dimension kommend, friert sie für ihre Ermahnung kurz die Zeit ein, bis sie uns wieder in die schreckliche Realität zurückwirft. Ilja Ruf überführt mit seiner freien Improvisation am Flügel den „Hymnus Ukraine“ ins Land „Utopia“.
Die Improvisation „UTOPIA“, die folgerichtig das gleichnamige Album beschließt, klingt heller, freundlicher, hoffnungsvoller als die vorigen Tracks. Die Musik treibt nach vorn, packt uns und fordert uns auf, für eine bessere Welt zu sorgen. Als letzte Klänge des Albums hören wir Atemgeräusche – näher kann uns unser Menschsein nicht kommen.
Am Freitag, den 25.11.2022 erscheint:
UTOPIA – Dialogues in Jazz With My Grandparents, Vol. 1
Bernd Konrad, Saxophone/Bassklarinette & Ilja Ruf, Piano
Hörbar in allen Streaming- und Downloadportalen oder erhältlich im Fachhandel.
Informationen: Utopia – Dialogues in Jazz with My Grandparents, Vol. 1 – Bernd Konrad & Ilja Ruf | Save-It
Text: H. Reile
Bilder: Privat