„Viktors Kopf“ – eine Spurensuche

seemoz-viktors-kopfAuf dem Gräberfeld X des Tübinger Stadt­friedhofs sind 507 Nazi-Opfer beigesetzt, darunter 99 Männer und Frauen, die zum Tode verurteilt und enthauptet wurden. Einer von ihnen ist Georg Viktor Kunz, ein auch von seiner Familie vergessener Widerstands­kämpfer, der 1943 in Stuttgart hingerichtet und später unter falschem Namen in Tübingen verscharrt wurde. Seine Urenkelin Carmen Eckhardt hat fast vier Jahre lang recherchiert und die Geschichte ihres Urgroßvaters aufgearbeitet. Ihr beeindruckender Dokumentarfilm „Viktors Kopf“ wird am 10. November im Konstanzer Scala-Kino gezeigt.

Urgroßvater Viktor sei verschollen, erzählte man sich in der Familie jahrzehntelang. Niemand schien eine Ahnung davon zu haben, was eigentlich mit ihm passiert war. Über Georg Viktor Kunz, den Pazifisten, Anarcho-Syndikalisten, kurzzeitigen Arbeitsminister der pfälzischen Separatisten und antifaschistischen Widerständler wurde der Mantel des Schweigens gelegt.

Jahrelange Recherche

Erst intensives Nachfragen Jahrzehnte später brachte dann die schreckliche Wahrheit ans Licht. Die Regisseurin Carmen Eckhardt durchbrach das eiserne Schweigen in ihrer Familie und deckte die Hintergründe des Schicksals ihres Urgroßvaters auf. Eckhardts Recherchen entwickelten sich zu einer teils erschütternden, teils abstrusen Odysee durch deutsche Amtsstuben und Gerichte, in Archive und Museen, in ein Anatomisches Institut und zum Tübinger Gräberfeld X. Anhand von Fotos, Dokumenten und Briefen werden Spuren von Viktors vergessener Geschichte aufgedeckt.

„Viktors Kopf“ beschreibt schonungslos, persönlich und emotional eine Zeitreise zwischen NS-Vergangenheit und Gegenwart, Verdrängung und Wahrheit, in der die Grenzen sich in manchen Momenten zu verwischen scheinen und der Mut der damaligen Widerstandskämpfer heute noch für Verwirrung und auch Abwehr sorgt. Die Beschäftigung mit der Geschichte ihres Urgroßvaters hat der Kölner Dokumentarfilmerin Carmen Eckhardt viel abverlangt.

Vergraben als Georg Goss

Eckhardt erinnert sich sehr eindrücklich an ihren ersten Besuch auf dem Gräberfeld X im Sommer 2013:

Es ist ein extrem heißer Tag in Tübingen. Ich bin aufgeregt. Nach aufwendigen, zeitraubenden Recherchen habe ich herausfinden können, dass mein Urgroßvater, Georg Viktor Kunz, als anatomisches Präparat im Anatomischen Institut der Universität Tübingen missbraucht worden war, und anschließend im Sommer 1944 auf dem Gräberfeld X verscharrt wurde. Ich bin nie zuvor auf dem Tübinger Stadtfriedhof gewesen und nehme die besondere Atmosphäre von Ruhe und Friedlichkeit auf. Der Ort macht Vergänglichkeit ganz wunderbar durch Verwitterung, das Wachstum von mehrjährigen Pflanzen, die nicht preußisch gestutzt sind und Grabmäler und Statuen, besonders gestaltet, spürbar. Alles scheint sich harmonisch ineinanderzufuügen.

Widerstand, der nicht wahr genommen werden soll

Nachdem ich die würdige Friedlichkeit hinter mir gelassen hatte, betrete ich abseits, in der hintersten Ecke des Friedhofs, das Gräberfeld X. Keine Kletterrosensträucher, kein Rittersporn, oder andere mehrjährige Blumenstauden wuürdigen den Ort durch Schönheit. laden zum Gedenken ein. Der Platz wirkt unbelebt und verlassen, nicht ungepflegt, aber auch nicht liebevoll gestaltet. Auf einer der sechs in den Boden eingelassenen Bronzetafeln suchte ich den Namen meines Urgroßvaters. Ich finde ihn schließlich unter dem ihm von den Nazis angehefteten Namen, Georg Goss. Viktor wird unter falschem Namen gedacht.

Das ist ein Schock, sehr schmerzhaft und in seiner Bedeutung unerträglich für mich. Mir wird klar, warum mich der falsche Name negativ berührt, wütend macht. Er symbolisiert nur das Ende einer Kette des Ausradierens eines Lebens, nämlich das eines Widerstandskämpfers, der bis heute wohl nicht offiziell wahrgenommen werden soll.

Ein Beleg hierfür: Der Reichsminister für Justiz ordnet nach Viktors Verurteilung und Ablehnung des Gnadengesuchs im Aug. 1943 an: „… die Hinrichtung ist dem Scharfrichter Reichhart zu übertragen … von einer Bekanntmachung in der Presse und durch Anschlag bitte ich abzusehen …“

D. h. niemand hat von der Hinrichtung erfahren, auch nicht die Familie.

„… Ebenfalls muss ich eine Überlassung der Leiche an die Angehörigen zur schlichten Bestattung ablehnen, da bei der Einstellung eines großen Teiles der elsässischen Bevölkerung mit einer Massenbeileidskundgebung zu rechnen ist…“, so der Reichsminister für Justiz. Die Familie durfte den Leichnam nicht bestatten, das Trauern oder auch nur die Gewissheit, was mit dem Ehemann, dem Vater geschehen war, wurde verwehrt. In der Nacht vor seiner Hinrichtung, am 16. Aug. 1943, schrieb Viktor einen Abschiedsbrief an einen Freund:

Mein lieber Freund Alfred,
..die Würfel sind gefallen, gefasst trete ich getreu meiner Überzeugungen den letzten Gang an … Allen, allen, die mir gut sind, sende ich die herzlichsten Grüße … Möge ein baldiger Frieden die Wunden heilen … bewahrt mir ein gutes Andenken …
… Das Sterben ist nicht so schwer, wenn man seiner selbst treu bleibt.

Dieser Brief wurde nie abgeschickt. Die Gestapo hielt ihn zurück, weil der Schreiber seinen Überzeugungen treu blieb. Erst 70 Jahre später finde ich den Brief.

Meine Bemühungen, das Unrechtsurteil gegen meinen Urgroßvater, Georg Viktor Kunz, in einer Einzelfallprüfung aufheben zu lassen und ihn somit zu rehabilitieren, auch von der Brandmarkung durch den Volksgerichtshof „… für immer ehrlos …“ zu sein, ist vor dem Bundesgerichtshof gescheitert. Der Gesetzgeber sieht keine Prüfung dieser Fälle vor.

Vor diesen Hintergrund ist es umso unerträglicher, dass Georg Viktor Kunz unter dem falschen, von den Nazis kolportierten Namen Georg Goss auf der Bronzetafel genannt ist. In seinem Fall dient die Nennung eher der Verschleierung, als der Würdigung und Aufklärung. Das bedeutet für mich in der Konsequenz, dass dieser aktive Widerstandskämpfer für seine Hinterbliebenen quasi unsichtbar gemacht wurde, aber auch für die nachfolgenden Generationen und das kollektive Bewusstsein.

Der Name auf der Tafel muss korrigiert werden.

Termin: „Viktors Kopf“, Dokumentarfilm (88 Minuten) von Carmen Eckhardt, 10.11. 2016, Scala, 20 Uhr.

Zusätzliche Informationen:
www.viktorskopf.de – Website des Filmprojekts
Tod durchs Fallbeil – Hermann G. Abmayr in der Wochenzeitung Kontext über Georg Viktor Kunz und die Verdrängung seiner Geschichte

MM/hr