„Wenn der Wahnsinn stärker ist als die Vernunft“
„Du bist ein freier Mann“, sagt Paula, „du lebst in einem freien Land.“ Ihr Mann Ferdinand sagt „nein“ und zeigt ihr, dass dem nicht so ist. So verläuft ein moralisches Dilemma im Theaterstück „Der Zwang“, das aktuell in Kreuzlingen und Konstanz aufgeführt wird. Es entfaltet eine Dynamik, die zwei Menschen zu entzweien droht und die Absurdität von Grenzen aufzeigt.
Es dauert einen Moment, bis man begriffen hat, dass das Stück in der Schweiz spielt, zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Es basiert auf einer Novelle von Stefan Zweig und spiegelt dessen persönliche Situation im Exil wider, anhand der Geschichte des Malers Ferdinand und seiner Frau Paula. Sie sind in die Nähe von Zürich geflohen und nun holt sie die deutsche Realität ein, in Form einer Einberufung. Ferdinand muss an die Front, sagt die Behörde. Ferdinand muss bleiben, wo er sicher ist, sagt Paula. Ein Konflikt, dessen Dimension im Laufe des Stückes immer größer wird. Ferdinand muss noch vieles mehr und das ist, was dargestellt wird.
Die Facetten des Zwangs
Ferdinand sieht sich von seiner Tätigkeit als Künstler gezwungen zu malen. Er kann seine Arbeit nicht einfach einstellen, er muss sie tun. Von seinem Eheversprechen sieht er sich gezwungen, bei Paula zu bleiben und für sie zu sorgen. Das Begehren und die Liebe zu Paula zwingen ihn in einer Szene in die Knie und das ist ihm nicht zu verdenken, so anrührend wie Eléna Weiss die Figur darstellt. Sie spielt die löwenhaft kämpfende Frau, bis ihre Tränen fließen und das mit einer nicht selbstverständlichen Schlichtheit. Sie zeigt die Macht einer Liebenden, in all ihrer unbezwingbaren Schönheit.
Und dennoch flieht Ferdinand, ebenso hervorragend besetzt mit Sebastian Haase, letztendlich auch vor Paula. Es ist die Pflicht gegenüber seines Vaterlandes, die ihn zum Gehorsam zwingt. Wie ein Schüler steht er auf, wenn der Lehrer ruft, und kann sich nicht dagegen wehren. Es ist die Macht des Gesetzes, der er sich nicht widersetzen kann. „Weil ich kein Held bin. Es ist ein Zwang.“
Paula führt mit ihren Fragen den Gehorsam ihres Mannes sowie die Komplexität der Bürokratie und der gesamten Staatlichkeit ad absurdum. Sie legt es Ferdinand als Schwäche aus, dass er den Impuls des Gehorchens verspürt. Sie sieht es als eine Verpflichtung an, seinen eigenen Grundsätzen zu folgen, auch wenn dies eine Konsequenz erfordert, die nicht mit Gesetzen übereinstimmt. Es ist also der Zwang des eigenen Selbst und der persönlichen Überzeugung, den Paula als oberste Maxime sieht: Der Glaube an den Humanismus zwingt einen Menschen, nicht zu töten. Pointiert fasst Ferdinand seinen Konflikt zusammen, als er im Konsulat auf eine Anhörung wartet. Er überlegt lange, bis er den passenden Satz findet. „Ich weiß, was meine Pflicht ist“, lautet dieser und das Treffende daran ist, dass man ihn nach innen und nach außen denken kann. Haase spielt diese Zerrissenheit so glaubhaft, dass man dabei zusehen kann, wie sich seine Figur in der eigenen Schwäche und Selbstzweifeln auflöst.
Spannende Inszenierung
Neben diesen beiden professionellen Schauspielern steht ein Chor in der Tradition des klassischen Theaters. Dieser setzt sich aus Schauspielern des Unitheaters Konstanz zusammen. In der Funktion der inneren Stimmen und der Beschreibung äußerer Kulissen begleitet er die Protagonisten auf ihrer Reise, die sie mehr und mehr voneinander entfernt. Der Chor symbolisiert dabei die Landschaft, die vergehende Zeit, die gesellschaftliche Atmosphäre des Grauens und die innere Angst. Er pendelt zwischen Wahnsinn und Hoffnung und erzeugt damit einen stimmungsvollen Rahmen, der von der Melancholie des Schweizer Volksliedes vom Guggisberg zu Beginn und am Ende getragen wird. Begleitet wird das Stück ebenso von zwei Beamten, die ein Symbol der Bürokratie und deren Macht darstellen. Sie weisen zu Beginn die Sitzplätze zu und machen somit deutlich, dass auch der Zuschauer gehorchen muss.
Inszeniert wird dieses Portrait eines moralischen Dilemmas von den Regisseuren Thomas Fritz-Jung und Andreas Bauer an drei Aufführungsorten: dem Kreuzlinger Kunstraum, dem Flüchtlingstreffpunkt Agathu und der Universität Konstanz. Ein Aufwand, der das Stück noch komplexer werden lässt, da es aus drei Perspektiven betrachtet wird – aus der künstlerisch ästhetischen, der gesellschaftskritischen sowie der intellektuellen Perspektive.
Deutlich wird hierbei, dass die Thematik der Flucht uns alle betrifft. Wir sind es nicht, die in Schlauchbooten über Ozeane fahren. Aber wir sind es, die in einer Welt leben, in der „der Wahnsinn stärker ist als die Vernunft“. Und wir sind es, die Sätze sagen, die beginnen mit „ich muss“ und damit Inhalte äußern, die es uns ermöglichen, vor unseren eigenen Grundsätzen zu fliehen und unsere eigenen Überzeugungen zu verleugnen. «Der Zwang» lädt ein, die persönlichen Grundsätze und ihre Grenzen neu zu überdenken und ist damit ein wichtiges Lehrstück. Für jeden von uns.
Veronika Fischer
(dieser Text erschien zuerst in der „Kreuzlinger Zeitung“ – www.kreuzlinger-zeitung.ch)
Weitere Termine: Am 21. und 22. Januar, jeweils um 20 Uhr, im Agathu Kreuzlingen an der Freiestrasse 28 und am 25., 27., und 28. Januar, jeweils um 20 Uhr, in der Studiobühne der Universität Konstanz.