Wenn Schauspieler sich organisieren

Orchester-, Tanz- oder Chormitglieder organisieren sich in Gewerkschaften. Nur Schauspieler nicht. Das könnte sich nun ändern, meint Stadttheater-Intendant Christoph Nix jüngst in einem Beitrag für die „Süddeutsche Zeitung“, den wir hier wiedergeben.

Es gibt kein historisches Beispiel dafür, dass die Schließung von Schauspielhäusern jemals durch Protest hätte verhindert werden können. Und nicht selten blieb dieser Protest sogar aus. Die Bühnentechniker und das Back-Stage-Personal waren meist unkündbar oder wurden in andere Abteilungen der Dreispartenhäuser integriert, die Stellen der Schauspieler hingegen wurden ersatzlos gestrichen. Warum haben Schauspieler in Deutschland scheinbar keine Lobby?

Nach der Wiedervereinigung Deutschlands ging die Kulturpolitik daran, Theater zu schließen. Betroffen waren ausnahmslos Schauspielhäuser und Tanzkompanien. Es gebe, so hieß es, abseits des Mainstreams, insbesondere in den Provinzen der alten DDR, keine „theatralen Inseln“ mehr. Kurz und heftig, aber ebenso erfolglos waren die Proteste in Berlin, als das Schillertheater 1993 seine Pforten schloss. In den Memoiren des damaligen Kultursenators (Ulrich Roloff-Momin: „Zuletzt Kultur“) kann man nachlesen, dass es mal wieder die große alte Arbeiterpartei SPD war, die, um angeblich den Staat finanziell zu retten, Orte der bürgerlichen Kultur schließen ließ. Damit wurde ein Prozess fortgesetzt, der in Deutschland die Zerstörung der künstlerischen Avantgarde seit den Zwanzigerjahren in Gang brachte.

Die Idee der Fusion verschiedener Theater, die zulasten des Schauspiels und damit der Schauspieler und Schauspielerinnen geht, wurde für unterschiedliche Städte propagiert, von Wuppertal bis Stralsund. In Nordhausen (wo Karrieren wie die von Armin Petras begannen, Schauspielintendant des Staatstheaters Stuttgart) wurde das Schauspielensemble erst im Jahr 2004 aufgelöst, die Landeshauptstadt Erfurt hatte da schon längst das Schauspiel abgewickelt und baute dafür ein neues Opernhaus. In Zittau und Zeitz, in Eisenach oder in Neustrelitz wurden Schauspielerpositionen ersatzlos gestrichen. Die Proteste hielten sich in Grenzen. Auch für die reduzierten Häuser fanden sich wieder neue Intendanten und die historische Rolle, die der Deutsche Bühnenverein dabei spielte, ist ruhmlos, seine Funktionäre waren oft genug die Väter der Fusionsgedanken.

Politische Initiativen wirkten hilflos, die deutsche Theaterlandschaft sollte zum Unesco- Weltkulturerbe – und damit museal – werden. Kaum bildete sich in Thüringen eine rot-rote Regierung, verkündete der zuständige Kulturminister neue Schließungs- und Fusionskonzepte und lockte die verbleibenden Künstler mit stabilen Tarifverträgen. Es waren Schauspieler auf dem Alexanderplatz, die die deutsche Wende mit eingeläutet und die Parole „Wir sind das Volk“ skandiert hatten, aber wenige Jahre später waren ihre Ensembles gefährdet, und das Volk schwieg.

Der Chefdramaturg des Zürcher Opernhauses, Claus Spahn, hat einmal dargelegt, warum der Einfluss einzelner Orchestermusiker in den deutschen Städten so groß, der anderer Kunstgattungen hingegen so klein ist. Will man es auf wenige Worte bringen, so könnte man sagen, Orchestermusiker haben Zeit (in der Regel 27 Stunden Arbeit pro Woche), und Schauspieler (in der Regel 48Stunden pro Woche) hetzen durch das junge Leben. Orchestermusiker unterrichten oft die Kinder einer Stadt, nicht selten die der Stadtverordneten. Schauspieler hingegen sind auf den Proben, selten leben sie in den Klein- und Mittelstädten länger als drei bis fünf Jahre. Schauspieler sind flüchtig, und die Vernetzung ihrer Interessen ist nicht ihr erstes Anliegen.

Nur das Genie zählt: Wer es nicht nach oben schafft, ist selbst schuld und schweigt

Interessanterweise lässt sich dies auch historisch nachverfolgen. Nach den Theatertarifverträgen von 1879 wurde schwangeren Choristinnen und Balletteusen eine halbe Gage weitergezahlt, schwangeren Solistinnen aber gar nichts. Dies ist ein eindeutiges Indiz dafür, dass die Interessen der sogenannten Kollektive am Theater (Orchester, Chor, Ballett) gewerkschaftlich stärker geschützt wurden, während die einzelnen Künstler zusehends in den Hintergrund traten.

Diese These lässt sich weiter belegen: Für Musiker und Chorsänger oder Bühnentechniker wurden feste Tarifgruppen gebildet, während die Gagen für Solisten in Schauspiel und Oper frei auf dem Markt verhandelbar blieben. Und so kam es, wie es ist: Während in einem Stadttheater auch ein kurz vor der Pension stehender Schauspieler selten mehr als 3 000 Euro brutto verdient, liegt das Monatsgehalt eines Technischen Leiters mindestens 1000 bis 1 500 Euro darüber.

Wirft man einen Blick auf die Landschaft der gewerkschaftlichen Theaterorganisationen, so bildet sich ab, was gesellschaftlich geschieht: Schauspieler und die ihnen verwandten Künstlergruppen, also Dramaturgen oder Assistenten, gehören zu den Verlierern kulturpolitischer Machtspiele. Orchester-, Tanz-, oder Chormitglieder und Techniker organisieren sich in Gewerkschaften, etwa der Vereinigung der Opernchöre, Orchestervereinigung, Verdi. Der Anteil der Solisten aber nimmt in der zunehmend schwächer werdenden Gewerkschaft der Bühnenangehörigen (GDBA) weiter ab. Hans Herdlein, der langjährige Präsident der Bühnengewerkschaft, beschrieb diesen Prozess zuletzt in der Zeitschrift Bühnengenossenschaft: „Die eine Gemeinschaft verbindende Solidarität nimmt ab. In dieser Zeit der Individualisierung geht die kollektive Interessenwahrnehmung durch Gewerkschaften zurück.“ Herdlein kritisiert den Prozess der Atomisierung, der in der gesamten Gesellschaft auszumachen ist und fordert besonders die kritische junge Schauspielergeneration auf, die Idee der Assoziation nicht zu vergessen.

Hinzu kommt aber auch, dass der Typus des Genies immer noch als Solitär beschrieben wird: Wer es als Schauspieler nicht nach oben schafft, ist selber schuld und schweigt still. Während bis in das Jahr 2004 an der Universität der Künste in Berlin Theaterrecht für junge Schauspieler unterrichtet wurde und dabei im Rollenspiel Gagenverhandlungen geprobt wurden, haben die Hochschulen für Schauspielkunst gegenwärtig den Kontakt zum praktischen Theateralltag verloren. Junge Schauspieler werden zu wenig auf den Berufsalltag vorbereitet. Das Intendantenvorsprechen ist das eine, aber die Übung darin, sich sozial zu wehren, in den Städten nach Verbündeten zu suchen, ist völlig unterentwickelt. Die kommunale Politik, die für die meisten Schauspielhäuser die Budgets festlegt, tut dies ja durch konkret gewählte Menschen. Diese Politik aber ist den jungen Schauspielern gedanklich oft weiter entfernt, als der Traum, irgendwann auf einer großen Bühne zu stehen.

Brecht schrieb, das „soziale Gefühl“ sei unentbehrlich. Wie aber erwirbt man das?

Vergessen sind auch die Elementarregeln von Bertolt Brecht über die Schauspielausbildung. Unter „Ziff. 7“ schrieb der alte Meister in den „Schriften zum Theater“, dass das „soziale Gefühl“ für den Schauspieler unbedingt nötig sei. Wie aber erwirbt man ein soziales Gefühl, wenn nicht in sozialen Kämpfen und Auseinandersetzungen? Wer lehrt die jungen Menschen eine praktische Ästhetik des Widerstandes?

Seit Februar 2015 beginnen sich Schauspieler in Deutschland nun neu zu organisieren. Das „Ensemble Netzwerk“ hat sich zum Ziel gesetzt, die Vereinzelung der Solisten aufzuheben, Bühnenalltag und niedrige Gagen zu thematisieren. Es gibt Überlegungen zu einem Schauspielerkongress und einer Assoziation mit der Gewerkschaft der Bühnenangehörigen.

Es ist eine große Chance für die betroffenen Schauspieler und eine Chance für das Schauspiel in Deutschland, es setzt aber voraus, dass junge, kunstbegeisterte Leute von Anbeginn groß denken und sich nicht kleinmachen lassen. So entsteht der Typus des Schauspielers, von dem der Theaterreformer Edward Craig einst schrieb: „als mensch ist er hoch zu schätzen, er ist offen, grosszügig und besitzt den echtesten kameradschaftsgeist“.

Christoph Nix