Wie das Knacken von Erdnüssen
Schämt sich die Schweiz eines ihrer größten Bergsteiger? Fast möchte man das meinen. Denn bisher gab es kein wirklich gutes Buch über Erhard Loretan. Nun liegt eins vor, das der schillernden Figur gerecht wird: Charlie Buffet beschreibt beide Seiten des Ausnahme-Bergsteigers und lässt dem tragischen Helden doch seine Würde
Erhard Loretan lebte eine klassische Tragödie: Der Vater verließ ihn. Lebenslang blieb er ruhelos und unerfüllt. Manche seiner Weggefährten starben in den Bergen. Den einzigen Sohn tötete er. Schließlich riss ihn die geliebte Frau in den Tod. Die Rede ist vom bedeutendsten Höhenbergsteiger der Schweiz. Nach seinem Tod 2011 hat Charlie Buffet, ein französischer Journalist und Alpinautor, eine Biografie verfasst. Schon das Umschlagbild lässt den Leser erschaudern: Loretan lachend; seine Mütze ziert ein Totenkopf.
Der 1959 Geborene findet seine Vorbilder in den Bergbüchern von Gaston Rébuffat, Lionel Terray und Hermann Buhl. Buffet sieht Erhard Loretan geradezu als Wiedergeburt von Buhl. In seiner Statur, in seinem kompromisslosen Stil, in seiner schwierigen Persönlichkeit. Buffet erzählt uns die Geschichte des Berghelden: Ein Nachbar nimmt ihn auf erste Bergtouren mit, Loretan findet Anschluss an gleichaltrige Bergverrückte. Dort hat Loretan Erfolgserlebnisse und erfährt Anerkennung. In der Schule und in der Lehre ist er kein Überflieger. Durch das Klettern lernt er Nicole Niquille kennen, seine erste große Liebe. Mit 24 Jahren hat Loretan seinen Plan, einer der besten Bergsteiger der Welt zu werden, schon verwirklicht. Innerhalb von fünfzehn Tagen besteigt er im Juni 1983 drei Achttausender. Er erreicht das bergsteigerische Niveau eines Reinhold Messner, übertrifft diesen schon. Nach seiner Everestbesteigung im Jahr 1986 hat er in nur vier Jahren neun Achttausender bezwungen. Es dauert weitere neun Jahre, bis er der dritte Mensch sein wird, der alle Achttausender bestiegen hat.
Still und finster
Buffet bezeichnet Loretans Stil, den dieser mit Jean Troillet an den Achttausendern entwickelt, als eine «kopernikanische Wende» im Höhenbergsteigen. Dieser Stil – jeder geht für sich, Verzicht auf Ausrüstung und Sicherheit, ausschließliches Vertrauen auf die eigene Überlegenheit – verzeiht nicht die kleinste Unzulänglichkeit. Loretan selbst verunfallte mehrfach schwer, lag nach Abstürzen lange im Spital.
Der Tod ist ein ständiger Begleiter. Oft erlebt Loretan das Sterben von Partnern und Konkurrenten hautnah mit. Buffet beschreibt diese Vorfälle wie unvermeidliche Kollateralschäden. Ein Bergsteiger vom Format Loretans muss von Ehrgeiz zerfressen sein. Dies einzuräumen, fällt extremen BergsteigerInnen schwer, dies zu diskutieren, bereitet auch Buffet Mühe. Er benennt die Sache aber klar: „Der Wettbewerb ist gleichzeitig die Essenz des Alpinismus und sein blinder Fleck.“
Eine Beschreibung der Person Loretan liest sich bei Buffet so: Ein heiterer und lustiger Mann, immer zu einem Spaß aufgelegt. Das Besteigen von Achttausendern sei für ihn wie das Knacken von Erdnüssen, bei all seinen Erfolgen sei er immer bescheiden und still geblieben, habe sich selbst nie wichtig genommen. Daneben findet sich ein anderer Loretan im Text: der finstere Schweiger, der Superindividualist, der Mensch, der ständig unter hoher innerer Anspannung steht, der starke Reize braucht, um zur Ruhe zu kommen, der zu keiner stabilen Bindung fähig ist, der trotz aller Erfolge nur kurze Momente zufrieden ist.
Tod am Geburtstag
Am Tod seines Sohns bricht die Biografie Loretans. Der Ausnahmebergsteiger wird zum Täter: Er schüttelt im Jahr 2001 seinen sieben Monate alten Sohn, dieser stirbt am nächsten Tag. Damit treten Zusammenhänge an den Tag, die wir nicht gern zusammen sehen wollen: hier der Jahrhundertbergsteiger, die Lichtgestalt und auf der anderen Seite der Vater, der sich eines Tötungsdelikts an seinem Sohn schuldig gemacht hat. Liegt es an diesem Umstand, dass bisher kein Autor und kein Verlag den Mut aufgebracht haben, Loretan in einem angemessenen Buch zu würdigen?
Loretans Tragödie geht nach dem Tod seines Sohns weiter. Buffet schildert, wie er wieder in eine Balance findet, in Kontakt zu seinem Vater tritt, eine neue Partnerschaft eingeht. Es scheint, als könne auch Loretan noch ein glücklicher Mensch werden. Die Beziehung zur neuen Partnerin, Xenia Minder, gelingt über die gemeinsame Bergleidenschaft. An seinem 52. Geburtstag führt er sie auf das Groß Grünhorn im Berner Oberland. Die Partnerin stürzt und reißt ihn mit. Im Gegensatz zu Minder überlebt Loretan den Absturz nicht.
Bei Loretan zeigt sich, wie absolute bergsteigerische Klasse und finstere Persönlichkeitszüge in einem Menschen zusammenwirken können. Vielleicht ist beim extremen Bergsteigen das eine ohne das andere nicht zu haben. Erhard Loretan hat in seinem Leben mit seiner dunklen Seite gerungen. Das ist zu würdigen und nicht zu verschweigen.
Es ist schade, dass es für dieses Buch beim AS-Verlag nur zur kleinen Form gereicht hat. Loretan hätte es verdient, in einem aufwendiger hergestellten Buch gewürdigt zu werden – ähnlich den großzügiger aufgemachten AS-Bänden zu Buhl, Stephan Siegrist oder Reinhard Karl. Es hätte sicher auch besseres Bildmaterial gegeben. Immerhin, Buffet hat etwas geschafft: Er hat über beide Seiten des Erhard Loretan geschrieben, ohne ihm die Würde zu nehmen.
Autor: Manfred Ruoß/woz.ch
Charlie Buffet: «Erhard Loretan. Ein Leben am Abgrund». Aus dem Französischen von Seraina Gross. AS-Verlag. Zürich 2014. 240 Seiten. Fr. 39.80.