Wie Menschen nun mal sind …
Das wird dem Publikum derzeit in Ödön von Horváths Volksstück „Kasimir und Karoline“ am Theater Konstanz vorgeführt. Zenta Haerter und Christoph Nix haben den Stoff aus der Zeit zwischen den Weltkriegen in einer in wesentlichen Teilen unveränderten Fassung auf die Bühne gebracht. Gekonnt transportieren sie dabei die Spannung zwischen Jahrmarkt und grauem Alltag, zwischen guten und bösen Seiten der Figuren – zwischen Wunsch und Wirklichkeit.
Karoline (Antonia Lena Jungwirth) besucht mit ihrem Freund Kasimir (Julian Härtner und Odo Jergitsch) das Oktoberfest. Sie freut sich auf ein Eis, einen heiteren Tag und besonders auf die Achterbahn. Er hat am Vortag seinen Job verloren, weswegen ihm so überhaupt nicht nach ausgelassenem Feiern zumute ist. Sie begegnen dem Gelegenheitsganoven Merkl Franz (Florian Rummel) und seiner Frau Erna (Sylvana Schneider), die von ihrem Mann ab und an eine Tracht Prügel einsteckt, aber doch nicht von ihm loskommt. Und dann stoßen noch das bourgeoise Duo Kommerzienrat Rauch (Harald Schröpfer) und Landgerichtsdirektor Speer (Peter Cieslinski) sowie Karolines personalisierte Hoffnung auf ein besseres Leben, der statushöhere Schürzinger (André Rohde), hinzu und machen die Verwirrung perfekt. Alle Figuren eint der Wunsch, für einen Tag ihrer gesellschaftlichen Position zu entfliehen und doch „kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wär man nie dabei gewesen“.
Spiel mit Dissonanzen
Karoline will sorglos sein, obschon sie Angst vor der Zukunft hat. Rauch und Speer wollen hemmungslos jungen Mädchen nachsteigen, obwohl es der Anstand verbietet und der selbsterklärte Antialkoholiker Schürzinger trinkt zum ersten Mal in seinem Leben Schnaps. Den „ewige[n] Kampf zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein“ nannte von Horváth diese jeder Person innewohnenden Widersprüche, die in verschiedenen Elementen der Konstanzer Inszenierung aufgegriffen werden.
Das Bühnenbild von Nix ist abwechslungsreich: teils naturgetreu mit einem Riesenrad aus in bunten Farben leuchtenden Glühbirnen in der Ferne, einem blinkenden Spielautomaten und Stoßautos, teils modern mit Schwebewänden, die verschiedene Szenen voneinander trennen, und einer schaukelnden Bank aus zwei Metallrohren. Das Kostüm (Bozena Szlachta) trennt die in unterschiedlichen Materialien und Farben gekleideten pittoresken Figuren des Rummels von den BesucherInnen, die wie ihr Leben in schwarz, grau und weiß gehüllt sind. Ein besonderer Kniff: Die asymmetrischen Schnitte der Kleidungsstücke spiegeln die Ambivalenz der Charaktere wieder, während die Auswahl der Teile ihren gesellschaftlichen Status abbildet.
Der Widerspruch zwischen Sprache und Handlung verschärft die Kontraste. Karoline kaut Eiswürfel, wenn sie „ein Eis isst“. Sie schreit Kasimir an, er solle sie nicht so anschreien. Die Rolle des Kasimir ist auf zwei Darsteller aufgeteilt. Julian Härtner gibt den aktiven, lebensbejahenden, nach außen gekehrten jungen Kerl Kasimir. Ebenso überzeugend ist Odo Jergitschs träger, lethargisch dreinblickender, introvertierter Kasimir, der sich kaum von der Stelle rührt. Unterstützt wird das Geschehen durch die Geigen- und Hackbrettklänge der Schweizer Noldi Adler und Tobi Töbler, die ihr musikalisches Können in der Variation von Harmonie und Disharmonie oder mit Sirtaki im Zeitraffer unter Beweis stellen.
Zwischen Fortschritt und Tradition
Zu Beginn ihres Oktoberfestbesuchs sieht Karoline voller Bewunderung den Zeppelin vorüberfliegen. Sie ist der Ansicht, am Zeppelin erkenne man „wie weit wir Menschen es schon gebracht haben“. Immer wieder taucht dieses Symbol im Laufe des Stücks auf. Hoffnungen und Ängste werden damit verbunden. Während Karoline dem technischen Wunder der neuen Zeit gebannt nachträumt, findet der frisch gekündigte Chauffeur Kasimir keine Freude an dem Flugobjekt („Ich scheiß dir was auf den Zeppelin“). Er hat ganz andere Probleme und sieht vor dem geistigen Auge seine Zukunft davonfliegen.
Bei den ersten Aufführungen des Stücks wurde die derbe Ausdrucksweise der Charaktere oftmals kritisiert. Dabei wollte von Horváth gerade diese und die dialektalische Aussprache als treffende Beschreibung der Leute verstanden wissen. Natürlich rollen sich bei der universalen Nutzung des Relativpronomens „wo“ einem Menschen, der die deutsche Sprache liebt, die Fußnägel auf, nichtsdestotrotz sprechen noch heute viele Deutsche dieses „andere“ Deutsch.
Zaghafte Sozialkritik
Häusliche Gewalt ist ebenso Thema des Stücks wie Frauenfeindlichkeit und Sexismus (Speer: „ein Mädchen ohne Popo ist kein Mädchen“). Karolines Wunsch nach gesellschaftlichem Aufstieg entpuppt sich als self-fulfilling prophecy von Schürzinger, der etwas kriecherischer hätte gezeichnet werden können, aber von André Rohde letztlich authentisch als die ‚solide bessere Wahl‘, dargestellt wird. Beschrieben wird die Misere der Figuren ausgesprochen gut. Die Erklärung dafür hingegen bleibt so ambivalent wie die Figuren selbst. Karoline („Die Menschen sind halt überall schlechte Menschen“) und Speer („Die Leut sind halt alle nervös und vertragen nichts mehr“) halten die Verhältnisse für gegeben, Kasimir und Franz sehen sich ihrer Situation hilflos gegenüber.
Allein Erna sehnt eine Revolution herbei und betrachtet im Marx’schen Sinne den Menschen als Produkt seiner Umstände („Die Menschen wären nicht schlecht, wenn es ihnen nicht schlecht gehen tät“). Sicherlich schrieb Horváth in einer Zeit, in der es gefährlich war, öffentlich Sozialkritik zu üben, von einer modernen Inszenierung wäre allerdings entweder eine etwas direktere Kritik zu wünschen – oder zumindest eine schlüssigere Darstellung der Charaktere.
Jungwirths Karoline scheint zu abgeklärt und zu wenig naiv und unbedarft, um sich einfach so auf das Abenteuer vom schnellen Aufstieg einzulassen. Vielmehr erwartet man von dieser erwachsenen Karoline, dass sie das Spiel des Kommerzienrats durchschaut. Rummels Merkl Franz wirkt zugleich notorisch überaggressiv, ohne die von dem Charakter ausgehende latente Gewalttätigkeit und Frustration durchzuhalten. Dabei wird die verbale, unterschwellige Gewalt des sozialen Zwangs auf der Bühne handgreiflich – nicht wirklich überzeugend.
Insgesamt jedoch gelingt es Haerters und Nix’ Inszenierung, die scheinbare Banalität des alltäglichen Lebens und Leidens der Menschen und die dahinter verborgene soziale Komplexität im Setting des Volkssfests spürbar werden zu lassen. Der dem Stück innewohnende Reiz des Schmelztiegels „Wiesn“ wird in Konstanz überzeugend inszeniert. Dabei leistet das dramaturgische Mittel des Kontrasts in vielerlei Hinsicht große Dienste. Wo viele verschiedene Menschen zusammenkommen, da werden soziale Grenzen fließend. Und immer menschelt’s.
F. Spanner