Wie wir die Landschaft wegwerfen
Die Zersiedelung der Landschaften hat viele Ursachen, aber nicht alle liegen in der Vergangenheit. Ein Blick auf die Bodenseeregion zum Beispiel zeigt, dass unsere Gesellschaft kein Bild von der Welt mehr hat – und keines vom Menschen. Eine aktuelle Zustandsbeschreibung von Jochen Kelter. Wichtig auch mit Sicht auf das in Konstanz geplante KKH.
Was verbindet österreichische, schweizerische und deutsche Bodenseeanrainer miteinander? Dass sie alle nahe beim oder etwas entfernter vom grossen Wasser leben. Dass ihnen der See selbstverständlich ist. Dass ihnen Grenzübertritte alltäglich vertraut sind. Dass sie – so sie Augen und, wichtiger, was hinter diesen liegt, öffnen – zusehen können, wie ihre Gegend, egal wo, zersiedelt, verbaut, eingezont, planiert, zubetoniert, verschandelt, verkauft wird. Sonst haben sie nicht viel miteinander gemein.
Der See verbindet nicht, wie die Politschranzen in ihren Sonntagsreden wider besseres Wissen beteuern. Er trennt. Die drüben kennen wir nicht, wir herüben werden nicht nur in den Novembernebeln unkenntlich. Ein Vorarlberger teilt mit einer Thurgauerin weder politische, soziale oder kulturelle Perspektive noch kollektive Geschichte. Ein St. Galler hat mit einer Oberschwäbin weder Krankenversicherungssystem noch Demokratieverständnis gemein, nicht einmal den Dialekt oder, besser, die Muttersprache.
Die Nationalstaaterei des 19. und 20. Jahrhunderts hat endgültig zerschnitten, was zuvor schon Eidgenossenschaft, Habsburger, Duodezfürsten, unzählige Herrschaften und Gerichtsbarkeiten zerteilt und in noch so kleine Territorien und Herrschaftsräume aufgespalten hatten. Wo sich die grossen Herren feudal bedienten, wollten die kleinen nicht hintenanstehen. Hauptsache: Herrschaft, Besitz, Verfügbarkeit. Historische und kulturelle Grenzen, Herkunft, Konfession, Zugehörigkeitsgefühl der Untertanen: ohne jede Bedeutung.
Minitrutzburgen und Gemütlichkeit
Wo Herrschaft kleinräumig wird, bleibt in der Regel kein Stein auf dem anderen. Längst verschollen das dünn besiedelte Alemannien mit dem einheitlichen Bodenseeraum, seinem geistigen und kulturellen Zentrum. Solch, wenn auch arg verkürzter Rückblick ist wichtig, will man in heutiger wilder Siedelei, dem enormen Landverbrauch und der Parzellierung – die ebenso Filetstücke hervorbringen wie Ödland und Brachen - das historisch gewachsene Kontinuum erkennen. Im Rheintal etwa leisten sich Österreich und die Schweiz ihre je eigene Autobahn. Und in ihre je unterschiedlichen Bauordnungen lassen sich die kleinräumigen Schweizer Kantone nicht hineinreden.
Bedeutete in früheren Zeiten Territorialbesitz feudale Herrschaft über das Land und die auf ihm lebenden Menschen, so hat sich die Situation für die freien und im Prinzip vor dem Gesetz allen anderen gleichgestellten BürgerInnen völlig verändert. Nichts und niemand kann sie – so sie sich an Erschließungspläne und Bauvorschriften halten – an Landbesitz und Bautätigkeit hindern, sei es für produktive oder private Zwecke. Unter dem ehernen Gesetz der Kapitalakkumulation übersetzen sich ihre im Einfamilienhaus und Garten- oder Parkgrundstück verwirklichten Träume in reinen Geldwert, den es, wenn immer möglich, zu steigern gilt.
Diesen puren Geldwert des Landes kannten frühere Epochen vor der Ära des Kapitalismus nicht. Und dieser alleine durch Verknappung zu steigernde Geldwert beflügelt durch keine ästhetische Norm mehr gezügelte bauherrliche Fantasien, deren Ergebnis häufig in einer Stein gewordenen Mischung aus Minitrutzburg, präpotentem Kitsch, geistiger Selbstbescheidung und miefig genormter «Gemütlichkeit» bestehen. Ob ungezügelter Landkauf und durch bürgerliche Freiheiten garantierte Bautätigkeit auch in Zukunft Bestand haben sollen, wäre eine grundsätzliche Diskussion wert.
Die Agglomeration ist überall
Wenn ich das historisch gewachsene, häufig durch turbokapitalistisch inspiriertes, architektonisches Kleinformat lädierte Stadtzentrum von Konstanz südwärts verlasse, gerate ich nach dem Grenzübertritt mit einem Schlag in eine Art von überbautem Brachland: die Nachbarstadt Kreuzlingen. Hier wird die Grenze besonders spürbar.
Wo früher die Stadt, von der Staatsgrenze kaum behindert, in eine dörflich gerahmte Villen- und Parklandschaft auslief, existiert jetzt ein abrupter Abbruch – ein Abbruch, der durch gesichtslose Wohnblöcke und Geschäftshäuser markiert wird, die in jeder Vorstadt, jeder ländlichen Gemeinde stehen könnten.
Kreuzlingen ist ein aus drei Dörfern zusammengeschusterter Ort mit dem Namen des früheren Klosters vor den Toren der alten Bischofsstadt Konstanz, der den Titel einer Stadt (auch) als Ergebnis der beiden Weltkriege erst seit wenig mehr als einem halben Jahrhundert trägt. Kreuzlingen ist auch eine Mixtur aus Leerstellen, willkürlichen Freiflächen und Baulücken, wo man von den fünfziger Jahren bis ins neue
Jahrtausend Gebäude wie Schuhkartons, Repräsentatives in Billigbauweise, Supermärkte auf der grünen Wiese, Tankstellen, Lagerhallen beliebig nebeneinandergestellt hat. Die Agglomeration – weder urban noch ländlich, weder Stadt noch Dorf – zieht sich als herrschende Siedlungs- und Lebensform vom Bodensee durchs Schweizer Mittelland bis nach Bern, von Konstanz in den Hegau, dem See nach bis ins österreichische Rheintal.
Immer im Kreis herum
Zur Nachbesserung dieses Siedlungsbreis und um Durchgangsstrassen zu entlasten, auf denen sich der Autoverkehr in zwanzig Jahren stellenweise verdoppelt und verdreifacht hat, wurden zunächst verkehrsberuhigte oder Fussgängerzonen geschaffen. Die bestückte man mit uniformen Blumenkübeln, Friedhofsbeeten oder einfallslosen Pflanzenkisten und zeigt so, dass Natur an diesen Orten nicht heimisch ist, dass diese Strassen nicht zum Flanieren gebaut wurden und – dieser Effekt lässt sich problemlos mit ein paar in die Zugluft platzierten Bänken erreichen – nun völlig unwirtlich erscheinen.
Danach erreichte uns, um den Verkehr flüssiger zu gestalten und Strom für Ampelanlagen zu sparen, die Baukultur des Kreisels. Dessen Inneres will aber nicht einfach mit Stiefmütterchen oder anderem Parkgewächs bepflanzt sein, sondern als Blickfang Sinnstiftendes und Verbindendes zeigen: obskure Springbrunnen im dichten Verkehr, schriftliche Anspielungen auf lokale Geschichte, die keine VerkehrsteilnehmerIn zu Fuss oder im Auto zu entschlüsseln vermag. Oder man hat in die Mitte Holzkähne, Ruder, Dreschflegel und ähnliches Gerät hineingestellt, die das Wesen der Gegend symbolisieren sollen, in Wirklichkeit jedoch historisch überkommen sind. Es gibt ferner Skulpturen, von denen zu vermuten ist, dass sie als Kunst wahrgenommen werden sollen oder dem Künstlerischen irgendwie verwandt.
In all diesen Denkmälern und Artefakten im öffentlichen Raum tobt sich der Geschmack von KleinbürgerInnen aus, Jurymitgliedern oder Gemeinderäten, deren Herz und Hirn in Wahrheit in Gewerbeflächen, Wohnquadratmetern, Mietwert und Verkehrsführungsachsen schlägt und denkt.
Der Siedlungsbrei und seine Köche
Die Kreuzlinger Siedlungswalze hat unterdessen längst die Nachbargemeinden im Osten und im Westen erfasst: Bottighofen und Tägerwilen, die unaufhaltsam mit der Nachbarstadt zusammenwachsen. Um die kaum noch zu ortenden, von der Nationalstrasse als Hauptdurchgangsstrasse zerschnittenen Ortskerne wuchert auch hier die «Agglo», die ich erst am westlichen Ende von Tägerwilen sichtbar und spürbar verlasse.
In meinem Dorf auf der idyllisch in den Untersee hineinragenden Halbinsel bin ich dann endlich auf dem Land und überlege, wer oder was verantwortlich ist für die in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts einsetzende Zersiedelung und Verschandelung unserer Region (und so vieler anderer Gegenden). Wer oder was hat Schuld an der bedenkenlos in die Landschaft hineinfräsenden Landnahme für Einfamilienhäuser, Wohnblöcke, Gartencenter, Autowaschanlagen, Drive-in-Schnellrestaurants, Supermärkte, Teppichzentren, Badewelten und Diskotheken?
Das Bevölkerungswachstum durch Binnen- und ausländische Zuwanderung natürlich. Der bis zum Zusammenbruch des sozialistischen Blocks steigende Nachkriegswohlstand. Der qualitativ wie quantitativ wachsende Konsum und die steigenden Ansprüche an Komfort und Hygiene. Aber auch der durch die Sinnleere der Wohlstands- und Wegwerfgesellschaft rapide wachsende Konsumismus – Konsum aus Prestigegründen oder wegen des Konsums um seiner selbst willen.
Ein Blick aus dem Fenster….
Nur reichen demografische und sozialhistorische Indikatoren letztlich nicht aus, um das Desaster der Landschafts- und Stadtzerstörung hinreichend zu erklären, deren Ende nicht absehbar ist. Dabei stoßen Landerwerb und Bautätigkeit auch in einer Gesellschaft an ihre Grenzen, in der Privatbesitz und Konsum die wichtigsten Werte geworden sind und in der die verfassungsmässig garantierte bürgerliche Freiheit, gegen Bezahlung alles erwerben zu können, als wichtigste Freiheit überhaupt gilt.
Dass diese Problematik nicht ins gesellschaftliche Bewusstsein vorgedrungen ist, belegt folgende Anekdote: Ein Thurgauer Regierungsrat rief beim Blick aus dem Fenster der historischen Gerichtsstube in Ermatingen auf den Untersee in der Abendsonne aus: „Wir müssen Sorge zu der Gegend tragen!“ Er tat dies just zur Zeit um die Jahrtausendwende, als ein paar Kilometer weiter östlich die Autobahn von Zürich bis an den See hinuntergezogen, eine neue Bahntrasse gelegt, in Tägerwilen ein neuer Bahnhof errichtet und zigtausend Tonnen Beton für ungezählte Tunnels, Kreisel und Strassen im Tägermoos und bis nach Kreuzlingen verbaut wurden.
….. aber kein Gespür
Unsere Gesellschaft, unsere Epoche besitzt kein Bild von der Welt und keines vom Menschen. Anders als etwa die Renaissance, die über den Umweg der Antike einen neuen Menschen erfand, der fortan als Individuum auftrat und nicht mehr allein als Mitglied eines Standes – und mit ihm ein neues Schönheitsideal, dem Kunst, Architektur und Ingenieurwesen zu folgen hatten. So entstanden die wunderbaren Proportionen der Villen Palladios und die Menschenbilder der florentinischen Frührenaissance.
Anders auch als die klassische Moderne, deren Architektur zwar nicht einen neuen Menschen hervorbrachte, ihn wohl aber in hellen, sauberen, zweckmässigen Gebäuden ohne die Vorschriften und Einengungen überbrachter Konvention wohnen lassen wollte.
Ein solch ganzheitliches Denken, das etwa Architektur, Technik, Design gleichzeitig erfasst, fehlt heute fast gänzlich. Wir sind viel zu sehr daran gewöhnt, Landschaften, Gebäude und ihre Nachbarschaft voneinander getrennt, ausschnitthaft wahrzunehmen. Was neben der Bildung, die sich in verkorkstes Spezialistentum zurückzieht, am nötigsten wäre, ist die Fähigkeit, zu sehen und zu spüren. Sehen muss man lernen, also am besten gleich in der Schule. Und spüren und fühlen dazu. Proportionen zu begreifen, sich in Häusern und Stadtlandschaften zu spüren, Natur wirklich zu schauen – das wären Voraussetzungen für einen anderen Umgang mit bebautem oder unbebautem Kulturland. Diese Fähigkeiten zu schulen, ist so wichtig wie der Unterricht in Mathematik und Englisch. Es wäre ein Anfang.
Jochen Kelter (63) lebt und arbeitet seit rund vierzig Jahren am Bodensee (seit einiger Zeit auch in Paris). Von 1988 bis 2001 war er Sekretär der Gruppe Olten, von 1989 bis 2003 Präsident des European Writers’ Congress, der Föderation der europäischen Schriftstellerverbände. Seit 2002 ist Kelter Präsident der Urheberrechtsgesellschaft ProLitteris. Kelter hat Romane, Essays und Kolumnen publiziert. Zuletzt erschien sein Gedichtband «Eine Ahnung von dem was ist» (Klöpfer & Meyer, Tübingen 2009) und die mit Hermann Kinder herausgegebene Anthologie «Bodenseegeschichten» (Klöpfer & Meyer, Tübingen 2009).
AutorIn: Die Wochenzeitung/ Jochen Kelter