Wild Wild East
„Sie kommen zu Tausenden, doch die Allermeisten werden das gelobte Land niemals erreichen“. So lautet eine Zeile des Songs „Europa“ von den Toten Hosen, mit dem am Samstagabend die Premiere des Theaterstücks „Rut“ in der Konstanzer Theater-Werkstatt begann. Der Text des Stücks stammt aus der Feder des Intendanten Nix und ist angelehnt an die Bibelgeschichte einer verwitweten Frau, die gemeinsam mit ihrer Schwiegermutter von Moab nach Israel flieht, um sich ein neues Leben aufzubauen.
Begleitet wird das Lied, das bereits lange vor der „Flüchtlingskrise“ entstanden und aufgrund der Thematisierung von der Flucht übers Meer heute aktueller ist denn je, von eindrücklichen Bildern überfüllter, sinkender Schlauchboote auf dem Mittelmeer und schrecklicher Rettungsszenen voller Verzweiflung. Gleich in der Exposition macht die Umsetzung des Stücks in der Regie von Katrin Hentschel dem Publikum ein Angebot, das es nicht ablehnen kann: Lernen Sie die Tragik von Flucht und Emigration, von Verlassen und Ankommen kennen!
Dabei verknüpft der Autor geschickt Historie und Aktuelles: Schon im fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, zum Veröffentlichungszeitpunkt des für das Stück in weiten Teilen unveränderten Originaltexts, wollten die Urheberinnen gegen eine fremdenfeindliche Auslegung der göttlichen Lehren ankämpfen.
Auf ins gelobte Land
Auch als die beiden Darstellerinnen, Katrin Huke und Jana Alexia Rödiger, die im Dunkeln liegende Bühne mit Stirnlampen als einziger Lichtquelle betreten, wird die Einbettung der Geschichte in den aktuellen Kontext fortgesetzt. Die Erlebnisse der Vertreibung und der Fremdheit in der Zuflucht zweier aus Syrien beziehungsweise dem Irak nach Konstanz geflüchteter Frauen, Hasna und Jine, werden als wörtliche Zitate vorgelesen. Erst dann schlüpfen die beiden Schauspielerinnen in ihre Rollen der Rut, ihrer Schwägerin Orpa und ihrer beider Schwiegermutter Noomi; später dann in die des Bauern Boas und seines Knechts.
Das Stück lebt von der Dynamik der schnellen Rollenwechsel, dem Fallen aus der Rolle, wenn beispielsweise eine direkte Anweisung an die Technik gegeben wird („Jetzt brauchen wir mal ein bisschen Emotionen bitte“) und sogleich Klaviermusik folgt, und nicht zuletzt von der stillschweigenden Kommunikation der beiden Miminnen untereinander. Die beiden Schauspielerinnen verstehen sich blind. Rut und Noomi lassen ihre toten Männer und Söhne – es liegen Knochen und Schädel auf der Bühne – zurück in Moab und machen sich auf die Reise nach Jerusalem, dargestellt als Spiel, wie wir es alle kennen, um den Sitzplatz auf einem Dreirad.
Hier zeigt sich der immer wiederkehrende, feinsinnig ironische Umgang durch Regisseurin Katrin Hentschel mit dem biblischen Original – nicht, ohne dabei auf Provokation zu verzichten. Das für die jüdische Gemeinde prägende Friedenslied „Hevenu Shalom Alechem“ als Ringelreihen? Das gefiel nicht allen ZuschauerInnen. Während Noomi alias Katrin Huke mit ihrem wunderbaren Gesang „The road to home“ von Amy McDonald zum Besten gibt, begeben sich die zwei Freundinnen nach Jerusalem. Auf den Weg selbst wird im Stück nicht viel Zeit verschwendet, denn es geht um das Ankommen, die Integration und die Fremdheit in der Fremde.
High Noon in Bethlehem
Angekommen in Bethlehem, bietet sich den beiden hoffnungsvollen Frauen, eingeleitet durch eine a capella Version von Ennio Morricones „Armonica“ aus dem Western „Once Upon A Time in the West“, ein enttäuschender Empfang. Noomi (auf Deutsch: „Die Liebliche“), die sich von da an Mara (vom Hebräischen „bitter-süß“) nennt, hat das Streben nach mehr Selbstbestimmung schon aufgegeben: „Gerne hätte ich ein anderes Leben geführt“. Doch für Rut, die die bei der Getreideernte übersehenen Ähren auf dem Feld des Landbesitzers Boas aufsammeln geht, um für einen Lebensunterhalt zu sorgen, ist es noch nicht zu spät. Mit rot geschminkten Wangen geht sie, den Rat von Noomi befolgend, zu Boas und bietet sich ihm, von „Angst und Wollust“ beherrscht, dar in der Hoffnung, dass er sie zur Frau nehme und ihr damit eine Zukunft in der neuen Heimat biete.
Oder doch Wild Wild West?
Der Zuschauerin eröffnet sich zunächst ein Bild des ‚Wilden Ostens‘: Zwei Frauen alleine auf dem Weg durch die Wüste, begleitet von Ennio Morricones „Cheyenne“, Windpfeifen und dem Geräusch vorbeifahrender Dampfloks – nahezu perfekt imitiert von Katrin Huke und Jana Alexia Rödiger. Sie erscheinen zunächst traditionell in ihren weiten, langen Röcken und Corsagen mit weißen hochgeschlossenen Blusen darunter. Doch der für die Ausstattung verantwortliche Norbert Bellen betont ihre wachsende Stärke und Selbstbestimmung, indem er sie im Laufe des Stückes die Röcke abnehmen und Reiterhosen sowie Cowboystiefel zum Vorschein kommen lässt. Dabei beweist gerade die Kleidung unfassbare Wandelbarkeit. Überflüssige Requisiten gibt es in diesem Stück nicht – alles hat eine Bedeutung, alles wird bespielt. Ein roter Faden führt wortwörtlich durch die Geschichte und findet für alles Mögliche Verwendung. Er ist Verknüpfung, Hindernis und Weg zugleich, er ist Sinnbild der Emigration. Er zeigt, dass die damit verbundenen Schwierigkeiten überall gleich sind: für Rut aus Moab wie für Hasna aus Syrien, damals wie heute, im Osten wie im Westen.
Und wo bleiben die Frauen in einem Stück über Frauen?
Einer Herausforderung aber stellt sich das Stück nicht. Auf den ersten Blick hat der Zuschauer den Eindruck, hier hätte der Autor zu viel Respekt vor dem Originaltext: Obwohl es sich beim Buch Rut um das einzige Buch der Bibel handelt, das allein aus der Sicht von Frauen geschrieben ist, dreht sich die Geschichte doch zentral um die Entmündigung einer Frau. Wie Vieh wird Ruth zur Versorgung von Schwiegermutter und ihrer selbst mitsamt einem Stück Ackerland verschachert.
Der nach jüdischem Recht zuerst auslösungsberechtigte nächste Verwandte verzichtet – nicht etwa, um der Liebe Vorrecht zu gewähren, sondern weil er um sein eigen Erbteil fürchtet. Natürlich, man ist ja hier in Baden, bedient sich die Regie dabei des Stereotyps des schwäbischen Pfennigfuchsers. Der alte Mann Boas darf also die – auch nach dem biblischen Original noch recht junge – Witwe Rut zur Frau nehmen.
Alles klingt nach Liebesheirat. Mehr wie ein Märchen. Und hier beweist das Stück wieder seinen feinen Sinn: Die beiden Frauen fallen zurück in die Rolle des Erzählers und lassen „das Recht das Recht und die Liebe die Liebe“ sein. Bei den Gebrüdern Grimm hieß das: „Und wenn sie nicht gestorben sind…“. Daraus machen die Toten Hosen in „Europa“: „…dann sterben sie noch heute.“
F. Spanner (Foto: Theater Konstanz/Björn Jansen)