„Zeit für mehr Gerechtigkeit“

Zugegeben: obiges Zitat ist falsch zugeordnet, obgleich es dem Rosshändler Michael Kohlhaas wohl mehr aus der Seele sprechen dürfte als der SPD heutzutage. Die Novelle Heinrich von Kleists wurde am Dienstag, von Tim Kramer (Theater Liechtenstein) als Kammer­spiel inszeniert, auf der Werkstattbühne des Konstanzer Theaters zum Besten gegeben. Der Andrang war übergroß und der Applaus wahrlich gerechtfertigt, fand unsere Kritikerin.

Kohlhaas, von den vier Schauspielern Heiner Junghans, Philip Heimke, Jan Krawczyk und Christiani Wetter in wechselnden Rollen verkörpert, wird im 16. Jahrhundert an einer – auch noch innerdeutschen – Grenze dazu aufgefordert, einen angeblich neu eingerichteten Zoll zu begleichen. Er lässt seine beiden gepflegten und wohlgenährten Rappen als Pfand zurück, um daraufhin mit dem geschuldeten Geld wiederzukommen. Nachdem er sich davon überzeugt, dass die Abgabe nicht geschuldet ist, kehrt er auf die Tronkenburg, Heimstatt des Junkers Wenzel von Tronka, der den angeblichen Zoll erhob, zurück. Doch was er vorfindet, sind zwei geschundene dürre „Mären“ und ein misshandelter Knecht, der von der Burg verjagt wurde. Nachdem die Klage Kohlhaas‘, dessen Vorbild Hans Kohlhase wohl tatsächlich existierte, auf Schadenersatz bei Gericht abgewiesen wird, wird auch noch seine Frau, beim Versuch des Vorbringens der Klage in einer höheren Instanz, getötet.

Von der Burg zur Stadt

Dies nimmt der Pferdehändler zum Anlass, zusammen mit sieben Knechten die Tronkenburg zu überfallen und mitsamt ihren Bewohnern in Brand zu setzen. Da der Burgherr jedoch entkommen kann, zieht Kohlhaas weiter mit seinem Heerhaufen brandschatzend durchs Land, wobei er Wittenberg und Leipzig mehrmals in Brand steckt.

Eine besondere Faszination für die Zuschauerin bietet das Bühnenbild, das zunächst ‚harmlos‘ als drei aus Holzklötzen bestehende Häuschen erscheint. Im Laufe des Stücks jedoch zeigt sich dessen Wandelbarkeit. Ein einzelner länglicher Klotz fungiert als Zollschranke, alle flach zusammengebaut als Podest – als Bühne auf der Bühne. Die unterschiedlichen, wohldurchdachten Formen der jeweiligen Teile lassen problemlos das Bauen eines Ambos oder kleiner Miniaturstädte und -Ortschaften zu. Werden sie fallen gelassen, entsteht eine auditive Untermalung der Zerstörungswut des Pferdehändlers. Überhaupt wurde in der Inszenierung bewusst mit Klang gespielt. Mit ihrem Stimmvolumen konnten die Darsteller die Zuschauer manches Mal glauben machen, dass da ein ganzer Trupp auf der Bühne steht. Auf Ton aus der Dose wurde nahezu verzichtet. Nur eine Trommel wurde zum Aufbau von Spannung genutzt.

Die Rolle Luthers

In Leipzig begegnet Kohlhaas Martin Luther. Inkognito kann er ein Gespräch mit Luther führen, der ihn wiederum zur Waffenniederlegung bewegt, indem er Kohlhaas freies Geleit nach Dresden und ein faires Verfahren verspricht – und das obwohl Luther ihn im Vorfeld öffentlich verurteilte. Der Feldzug Kohlhaas‘ hätte keine Legitimation, da der Herrscher selbst ihm kein Unrecht habe, dieser wisse ja gar nichts über die Angelegenheit. Die Verbrecher sind immer die Anderen – typisch deutsch?

Hier zeigt sich von Kleists Bild Martin Luthers als Kirchenmann, der nicht davor zurückschreckt, sich in weltliche Angelegenheiten auf Seiten der Herrschenden einzumischen. Einst selbst junger Revolutionär beim Thesenanschlag, beschwichtigt er nun Michael Kohlhaas und möchte ihn zur Kapitulation überreden, obwohl jener doch ‚nur‘ rechtliches Gehör sucht, das ihm nicht vergönnt zu sein scheint. Gerade weil das Stück am Reformationstag aufgeführt wurde, kann es als Aufforderung an den Zuschauer verstanden werden, die Rolle der Kirchen bei der Legitimation staatlicher Willkür zu überdenken.

Kohlhaas – ein „Wutbürger“?

Schließlich wird Kohlhaas, dessen Heerhaufen nun eigenständig plündernd Schrecken verbreitet, in Dresden entgegen der Amnestievereinbarung mit dem Landesherrn festgesetzt. Aufgrund unglücklicher Umstände folgt letztlich die Verhaftung und ein gerichtliches Urteil. Der lange ersehnte Schadenersatzanspruch gegen den Junker Wenzel von Tronka geht allerdings einher mit einer Verurteilung zum Tode wegen Landfriedensbruchs. Sein ihm zustehendes Recht möchte der Rosshändler jedoch bis zuletzt nicht erkaufen müssen: Die Prophezeiung einer Weissagerin über die Dauer der Macht des Kurfürsten von Sachsen verschluckt Kohlhaas noch auf dem Schafott, obschon jener ihm im Gegenzug sogar die Rücknahme des Todesurteils anbietet.

Ist Kohlhaas also ein früher „Wutbürger“, wie in der Ankündigung des Stückes beschrieben? Er bezeichnet sich selbst einmal als „Reichs- und Weltfreien“, was im Publikum zu Gemurmel („Reichsbürger“) führt. Doch kann jemand, der sich als selbstbestimmter Autoritätsloser begreift, weil er das nicht bekommt, was ihm als Bürger gesetzlich zusteht, tatsächlich mit Personen gleichgesetzt werden, die sich eine andere Autorität wünschen als die bestehende – zumal eine vergangene? Wohl kaum. Bei Kohlhaas ist es nämlich nicht der Bürger, der die Autorität nicht anerkennt, sondern die Autorität, die sich für den Bürger Kohlhaas nicht zuständig fühlt, obwohl dieser sich das sogar wünscht. Nicht Kohlhaas stellt sich, zuerst, außerhalb die Schranken des Rechts. Der Staat ist es, der mit ihm willkürlich verfährt – es ist schließlich eine Frage seiner Grundrechte.

Insofern ist es auch schwierig zu bewerten, ob Kohlhaas tatsächlich übertrieben reagiert. Er setzt zunächst alles daran, den legitimen Rechtsweg zu beschreiten, aber die Frustration über abermaliges Ignoriertwerden lässt ihn zu immer härteren Mitteln greifen. Die Zuschauer werden dabei vor die Frage gestellt, was sie an seiner Stelle tun würden: kleinbeigeben oder für das Selbstverständliche kämpfen? Übt Kohlhaas berechtigten Widerstand oder sind hier die Grenzen der Verhältnismäßigkeit überschritten? Für Kohlhaas steht fest: Es geht ihm ums Prinzip – im positiven Sinne. Nicht ums Rechthaben, sondern lediglich darum, die ihm zustehende Gerechtigkeit zu erfahren.

Klein, aber fein

Gerecht war jedenfalls ein ausgedehnter Applaus für die Darsteller, die diesem zunächst puristisch anmutenden Bühnenbild und der sprachlich nicht immer einfachen Erzählung so viel Leben eingehaucht haben. Im Gegensatz zu Michael von zur Mühlens Inszenierung des „Zerbrochenen Krugs“ vor einiger Zeit am Theater Konstanz, in der der anspruchsvolle Text einschläfernd heruntergeleiert wurde, wurden die unterschiedlichen Figuren durch das Verwandlungsgeschick der Schauspieler authentisch zum Leben erweckt. Durch die schnellen Rollenwechsel hatte jede Szene ihren eigenen Charakter und Christiani Wetter bewies mehrfach, dass sie auch ‚Mann‘ kann. Viele Handlungen kamen durch die gelungenen pantomimischen Darstellungen ganz ohne Requisiten oder zusätzliche Worte aus. Berücksichtigt man die Verteilung einer unglaublichen Textmenge mit so manch altertümlicher Formulierung auf lediglich vier Schauspieler, die oft regelrechte Sprachsalven abschossen, sind auch die wenigen Texthänger verzeihlich. Insgesamt konnte die schauspielerische Leistung mangelnde zusätzliche Ressourcen wunderbar kompensieren.

Schade nur, dass es nicht mehr Plätze für Zuschauer gab: Denn die Nachfrage war groß und dass die Karten für die Aufführung bereits vor dem Abend ausverkauft waren, war nur berechtigt.

F. Spanner (Foto: Theater Konstanz/Ilja Mess