Zur Vornehmheit in der Kunst philosophischer Pöbeleien
1. Einleitung
amicus plato sed magis amica veritas: Plato ist mir lieb, doch noch mehr liebe ich die Wahrheit
Aristoteles, Schutzheiliger philosophischer Polemik, nach traditioneller Zuschreibung
Es gab Zeiten, in denen philosophische Pöbeleien und wissenschaftliche Polemiken als drastische Formen von Ironie und Sarkasmus anders als heute weit verbreitet waren, allerdings nicht ohne gravierende Folgen für die persönlichen Beziehungen der Protagonisten oder für unsere heutigen Empfindungen über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Wahrheit und (Selbst)Täuschung. Eine Erinnerung an diese Polemiken ist angesichts einer gewissen Langeweile im Konsens aller gemäßigt Wissenden oder, was dasselbe ist, der politischen Korrektheit aller Konformisten, vielleicht nötiger denn je.
Die philosophische Polemik beginnt im Kampf mit antiken sophoi oder Weisen der verschiedensten Disziplinen, gegen die sich die sokratische Aufklärung ironisch richtet – auch wenn Aristophanes alles durcheinanderbringt und in seiner Komödie „Die Wolken“ den Sokrates als Obersophisten darstellt. Dabei schreibt schon die doxographische Überlieferung dem ‚Vorsokratiker’ Heraklit eine drastische Pöbelei gegen das Volk oder vielleicht doch auch eher den Pöbel in seiner Vaterstadt Ephesos zu: „Die Ephesier sollten sich alle aufhängen, weil sie den besten Mann aus der Stadt vertrieben haben.“ Am Anfang der Philosophie steht also eine Polemik eines ‚Philosophen’, der vielleicht bloß scheinbar den anderen Menschen sehr ungnädig gegenübertat und eher ungnädigerweise als vermeintlicher Misanthrop dargestellt wird.
Dass es eine Versuchung gibt, zugunsten eines Bonmots den besten Freund zu verraten, das allerdings zeigt sich nicht nur in unserem Motto, sondern gerade auch am Beispiel zweier Meister der Satire, Egon Friedell und Alfred Polgar, deren „Polfried AG“ eine Produktionsfabrik für grimmigen Humor besonders das Wien vor und nach dem ersten Weltkrieg wenigstens ein wenig bewohnbar machte (jedenfalls für Geister wie Peter Altenberg). In der Laudatio zum 50. Geburtstag von Polgar schreibt z.B. Friedell, wohl der etwas zartfühlendere der beiden, schon recht deutlich: „Die hohe Meinung, die ich von Polgar habe, ist nicht die Ursache, sondern die Folge unserer Kollaboration. Da ich ein ziemlich intelligenter Mensch bin, so müßte es doch sonderbar zugegangen sein, wenn ich nicht den besten Mitarbeiter ausgesucht hätte, der aufzutreiben war“. (Vgl. E. Friedell/ A. Polgar, Goethe und die Journalisten, hg. v. Heribert Illig, Wien 1986, 254.) Illig fährt in seinem Nachwort so fort: „1928 führte Polgar, ‚der nicht nur aus allem Gift saugte’, sondern auch mit seiner vergifteten Feder immer wieder zustechen musste, einen üblen Angriff auf Friedell. Im Nachruf auf Friedells Hund Schnick lobte er zunächst dessen moralische Integrität. ‚Als redliches Tier zog er hieraus die Konsequenz, das Zusammengeschnüffelte bei sich zu behalten. Er war kein Philosoph für die Zeitung, die Plattheit will oder billige Paradoxie. … Er war ein Charakter. Er gehörte nicht zu jener Rasse, die die dreckigste Hand leckt, wenn sie nur krault. Keinem bellt er nach dem Munde.’ Der abschließende Hinweis, daß er in allem das genaue Gegenteil seines Herrchens gewesen sei, war nicht mehr boshaft, sondern böswillig.’“ (a.a.O. 254-255).
2. Die philosophischen Freunde Schelling und Hegel
Der badet gern lau.
Herbert Wehner, Protagonist politischer Polemik über (seinen politischen Freund) Willi Brandt
Das Freundespaar Schelling und Hegel hat sich, wie manche gute Ehe, bekanntlich im Laufe der Zeit auseinandergelebt. Viele meinen, Hegel habe eine Unvorsichtigkeit begangen, als er in seiner Phänomenologie des Geistes davon sprach, dass in gewissen Reden über das Absolute alles so dunkel ist wie in der Nacht, in der alle Katzen grau sind. Schelling war nämlich so empfindlich, diese allgemeine Kritik direkt auf sich zu beziehen. Die Folgen zeigen sich in Schellings Geschichte der neueren Philosophie, in der er mit Hegel abrechnet, und das auf eine Weise, die einem Marcus Antonius bei Shakespeare alle Ehre gemacht hätte:
„Man kann Hegel das Verdienst nicht absprechen, daß er die bloß logische Natur jener Philosophie, die er sich zu bearbeitenden vornahm und die er zu ihrer vollkommenen Gestalt zu bringen versprach, wohl eingesehen hatte.“ (Zur Geschichte der neueren Philosophie, Reclam Verlag Leipzig, 1975, S. 146). „Allein Hegel liebt diese ungefähre Art sich auszudrücken; dadurch läßt sich allerdings dem Trivialsten der Schein eines Ungemeinen geben.“ (a.a.O. S. 155). „Der Hegelsche Begriff ist der indische Gott Wischnu in seiner dritten Inkarnation, der sich dem Mahabala, dem riesenhaften Fürsten der Finsternis (gleichsam als dem Geist der Unwissenheit), entgegenstellt, welcher die Oberherrschaft in allen drei Welten erlangt hat. Diesem erscheint er zuerst in der Gestalt eines kleinen, zwergartigen Brahminen und bittet ihn nur um drei Fuß Land (die drei Begriffe Sein, Nichts, Werden), kaum hat der Riese diese gewährt, so dehnt sich der Zwerg zu einer ungeheuern Gestalt aus, reißt mit einem Schritte die Erde, den Himmel mit dem anderen an sich, und ist eben im Begriff, mit dem dritten auch die Hölle zu umfassen, als der Riese sich ihm zu Füßen wirft und demütig die Macht des höchsten Gottes erkennt, der nun seinerseits großmütig ihm die Herrschaft im Reich der Finsternis (versteht sich unter seiner Oberherrschaft) überläßt. Wir wollen nun also zugeben, daß die drei Begriffe Sein, Nichts, Werden nichts mehr außer sich voraussetzen und daß sie die ersten reinen Gedanken sind.“ (a.a.O. S. 165-166)
Beruhigend ist nur, dass vor dem Genie Schellings auch das Kants verblasst:
„So große Verehrung wir dem Namen Kants schuldig sind, so liegt doch am Tage, daß, wenn wir bloß auf das Resultat sehen, nicht einleuchten will, um wie viel besser derjenige daran sei, der bei Kant, als der noch früher bei Locke und Condillac stehenbleibt.“ (Zur Geschichte der neueren Philosophie, Reclam Verlag Leipzig, 1975, S. 218)
Der Verrat an Freunden zugunsten von Bonmots macht Schule, wie der Fall Bruno Bauer, der zu den Junghegelianern zählt, und Karl Marx zeigt. Bauer hatte nicht nur versucht, seinem Freund Marx nach dessen Fernpromotion in Jena (bloß gegen Entgelt und mit einiger Sicherheit ohne jedwede Lektüre seiner Dissertation durch den postalisch wie heute im Internet quasi anonym angeschriebenen ‚Doktorvater’) eine Stelle bei den Theologen an der Universität Bonn zu verschaffen. Er hatte ihn zuvor mit einiger Sicherheit bei der Wahl und der Ausarbeitung seiner Dissertation (zu Epikur) beraten. Wie weit diese Hilfe ging, wird man wohl nie mehr erfahren. Jedenfalls reagierte Marx wie Schelling auf Hegel oder dann auch Polgar auf Friedell: eine leicht ironische Kritik Bruno Bauers an seinen frühen Veröffentlichungen hat er auf keine Weise vertragen. In der (allerdings erst postum veröffentlichten) Deutschen Ideologie pöbelt Marx daher gegen „den heiligen Bruno“ alias „Sankt Bruno“ viele Seiten lang und schreibt dabei unter anderem: … „der Kirchenvater ermangelte der Ruhe, kristallinisch zu lesen, da er in seinen Gegnern Konkurrenten fürchtet, die ihm, die Kanonisation streitig machen, ihn ‚aus seiner Heiligkeit herausziehen wollen, um sich heilig zu machen.’“ (Dt. Ideologie, MEW 3, 95). Glaubwürdig ist das leider nicht.
3. Schopenhauer über Hegel
Je fehlerhafter die Logik, um so interessanter die sich aus ihr ergebenden Ergebnisse.
Bertrand Russell über Hegels Logik in seiner Philosophie des Abendlandes, ohne zu ahnen, dass der Spruch weit eher seinen eigenen Umgang mit der formalen Logik nach Gottlob Frege betrifft.
Schopenhauer war nie ein Freund Hegels. Aber Hegel hatte (als Mitglied der Habilitationskommission) Schopenhauer immerhin nicht durchfallen lassen, obwohl er das Selbstgebastelte der Metaphysik des jungen „philosophischen Schriftstellers“ (so Heidegger schön maliziös über Schopenhauer) ebenso wie dessen maßlose Hybris wohl erkannte. Für Schopenhauer dagegen ist klar: „Fichte, Schelling und Hegel (sind) keine Philosophen“. (Schopenhauer, Parerga und Paralipomena I, Zürich, Diogenes-Verlag, S. 30). Schopenhauer klagt sogar über die „peinliche Empfindung“, von der man ergriffen werde, „wenn man … an die Schriften Fichtes und Schellings, oder gar an den … frech hingeschmierten Unsinn Hegels denkt“ (a.a.O. S. 32). Es atme „hier Alles Unredlichkeit“ (a.a.O., S. 33) … „wie er der Scharlatanerie in jeder Art und jeder Zeit eigen ist“.
Beruhigend ist nur, dass der selbsternannte Schüler und Autor von „Schopenhauer als Erzieher“, Friedrich Nietzsche, der seine frühe Professur in Basel nur einem Schopenhauer-Freundeskreis (um Richard Wagner und seinen Lehrer Ritschl) verdankte, sich im Laufe der Zeit offenbar emanzipiert hat, etwa wo er erklärt, Schopenhauer habe „es mit seiner unintelligenten Wut auf Hegel dahin gebracht, die ganze letzte Generation von Deutschen aus dem Zusammenhang mit der deutschen Kultur zu herauszubrechen, welche Kultur … eine Höhe und divinatorische Feinheit des historischen Sinns gewesen ist.“ (F. Nietzsche Jenseits von Gut und Böse, 6. Hauptstück, Wir Gelehrten, Nr. 204.)
4. Bertrand Russells am Ende nobelpreisgekrönte polemische Philosophiegeschichte
Die Mathematik ist eine gar herrliche Wissenschaft, aber die Mathematiker taugen oft den Henker nicht
Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft K, 185).
Zu Schopenhauer schreibt Russell in seiner aufgrund ihrer überlegenen Ironie höchst vergnüglich zu lesenden, aber in allen philosophischen Aussagen zumeist völlig an der Sache vorbei redenden, eben deswegen bis heute weit verbreiteten und allseits geliebten „Philosophie des Abendlandes“ schön ironisch: „Sein Hauptwerk, Die Welt als Wille und Vorstellung, wurde gegen Ende des Jahres 1818 veröffentlicht. Er hielt es für sehr bedeutend und verstieg sich sogar zu der Behauptung, einige Abschnitte darin seien ihm vom Heiligen Geist diktiert worden“.
Zu Nietzsche sagt er: „Nietzsches Übermensch ist ein zweiter Siegfried, der allerdings Griechisch kann“ … „Er kann Sokrates seine bescheidene Herkunft nicht verzeihen… . Er wird niemals müde, die Frauen zu schmähen. In seinem pseudoprophetischen Buch Also sprach Zarathustra sagt er, die Frauen seien der Freundschaft noch nicht fähig, sie seien vielmehr noch Katzen oder Vögel oder vor allem Kühe. … All sein Schmähen der Frauen wird als selbstverständliche Wahrheit vorgebracht; sie wird nicht durch ein Zeugnis aus der Geschichte oder aus eigener Erfahrung belegt, die sich, soweit es sich um Frauen handelte, so ziemlich auf seine Schwester beschränkte.“
William James, der Hauptvertreter des Amerikanischen Pragmatismus, um ein weiteres und für sich höchst interessantes Beispiel zu nennen, kommt dann weit besser weg. Russell erklärt: „James interessiert die Religion als menschliches Phänomen; die Dinge, über welche die Religion nachdenkt, interessieren ihn jedoch kaum. Er will die Menschen glücklich sehen, und wenn der Glaube an Gott sie glücklich macht, dann sollen sie ruhig an ihn glauben. Insoweit kann man aber nicht von Philosophie, vielmehr nur von Güte sprechen; Philosophie wird erst daraus, wenn erklärt wird, der Glaube sei „wahr“, weil er die Menschen glücklich macht. … (wenn aber einer) an Gott glaubt, dann glaubt er an ihn, wie er an die Existenz von Roosevelt oder Churchill oder Hitler glaubt: Gott ist für ihn ein wirkliches Wesen, nicht bloß eine menschliche Vorstellung mit guten Konsequenzen. Und eben dieser echte Glaube hat die guten Wirkungen, nicht James’ kümmerlicher Ersatz“.
Vielleicht sollte man gerade in Philosophie und den Geisteswissenschaften doch auch wieder Mut zur Karikatur und Polemik haben, trotz aller Ungerechtigkeiten und Unrichtigkeiten im Detail. Allerdings stört dann neben dem Ton des Schimpfens eine nicht bloß manchmal überhebliche Selbstsicherheit des Urteils, die freilich häufig allzu schnell mit der bloßen Tatsache der Artikulation von Kritik verwechselt wird. Andererseits nervt ein gar nicht mehr ironisches oder gar lustiges Wichtigtun des Kritikers – so dass die Frage nach der Vornehmheit der Ironie und nach dem Ärgernis der weit weniger vornehmen Pöbelei in das Zentrum kritischer Reflexion tritt, ein sicher mehr als abendfüllendes Thema.
Text: Pirmin Stekeler-Weithofer, Seniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Leipzig. Bild: Raffael, Die Schule von Athen, Wikipedia, gemeinfrei. Dieser Text erschien zuerst in „Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften“, Heft 11 (2013).