Zwischen allen Stühlen: Detailsuche im Nachbarland
„Sie sagen doch auch noch was, oder?“ Freundlich lächelte mich die Dame aus der Museumspädagogik des Kunstmuseums St. Gallen, Daniela Mittelholzer, an. Das kommt etwas überraschend für mich, war so nicht geplant und vorbereitet habe ich aus diesem Grunde auch nichts. Wir schreiben den 22. Oktober 2021. Unser Autor verrät, worum es bei diesem Termin überhaupt gegangen ist.
Ich bin mit Steffen Bogen, Professor in der Kunstwissenschaft der Universität Konstanz und renommierter Autor von Brettspielen, vor Ort, um bei der offiziellen Übergabe des Spiels „SherLOOK“ dabei zu sein, eines Augmented Reality-Spiels, das in einem langen, sich über drei Jahre hinziehenden Prozess gemeinsam mit Studierenden und einer Softwarefirma in Basel entwickelt wurde. Eine Gruppe von etwa 20 Studierenden ist anwesend, aufgeregt, neugierig, hellwach. Nicht alle konnten kommen, die an den Seminaren zur Spielentwicklung teilgenommen haben. Die Anwesenden versammeln sich im Foyer, bekommen etwas Zeit, das fertige Spiel zu spielen – schließlich waren manche nicht bis zum Schluss dabei – und dann geht’s in den Konferenzraum des Museums im Keller. Gedämpftes Licht, vier Stühle, ein Rednerpult. Vorn die Studierenden, auf den hinteren Reihen Mitarbeiter:innen des Museums. Vielleicht ein, zwei Pressevertreter, das kann ich nicht so genau erkennen.
Ich selbst habe das Projekt in der frühen Konzeptionsphase kennengelernt und dann auf einer Präsentation an der Universität eine Zwischenstufe gesehen. Deshalb war ich sehr neugierig, was denn nun draus geworden ist. Immerhin ist hier tatsächlich ein Produkt entstanden. Das ist im geisteswissenschaftlichen Transfer eher unüblich. Typischerweise entstehen hier temporäre Artefakte und Ereignisse: eine Sonderausstellung, eine Aktion auf dem Münsterplatz, ein Diskussionsabend, die Begleitung von Proben einer Theaterproduktion. Nichts auf Dauer.
Das ist hier anders. Hier ist tatsächlich ein Medium entwickelt worden, das im Regelbetrieb einer Kultureinrichtung eingesetzt wird. Aus diesem Grunde wurde auch mit professionellen Softwareentwicklern zusammengearbeitet. Wenn sonst in Transferzusammenhängen etwas programmiert werden muss, dann wird das an der Universität selbst gemacht. Dort aber entstehen Prototypen, die erst einen langen Weg durch die beta-Testung nehmen müssten. Das kann und will die Universität nicht leisten. Ihre Aufgabe ist, Wege ins Neue, Ungedachte zu öffnen, nicht stabil befahrbare, belastbare Straßen zu bauen.
„Herr Kümmel-Schnur?!“ Achja, ich soll ja jetzt was sagen, so aus dem Stehgreif. Ich stehe auf, bewege mich Richtung Podium, durch meinen Kopf laufen die Gedanken und Bilder des eben gespielten Spiels.
Wie funktioniert das? An der Museumskasse bekommen Interessierte ein Tablet ausgehändigt. Auf dem Tablet startet die App mit der Erzählung eines Diebstahls. Da ist jemand unterwegs gewesen im Museum, der hat den Bildern etwas geraubt. Ja, ganz richtig gelesen: da hat jemand nicht Bilder, sondern DETAILS aus Bildern gestohlen, Dinge, die er toll fand, denn er ist der DETAIL- DIEB. Hier die Feder eines Helms, dort die feinen goldenen Haare des Schnurrbarts des Heiligen Sebastian und da die tiefen Fältelungen eines Bergzugs. Und diesem Detaildieb müssen die spielenden Detektivinnen und Detektive auf die Schlichte kommen. Findet die Details und gebt sie den Bildern zurück.
Diese Rahmenerzählung beginnt bei einem Gemälde, das eine Gemäldesammlung in sogenannter Salon- oder auch Petersburger Hängung zeigt: einen hohen Raum, dessen Wände über und über bedeckt sind von großen und kleinen Bildern. Da passt nichts dazwischen, jeder Raum ist ausgenutzt. Salonmaler im 19. Jahrhundert tendierten zu besonders großen Formaten, um in diesem Durcheinander überhaupt aufzufallen. Ein solcher Bilderschatz ist natürlich ein El Dorado für den Detaildieb – und richtig: wir sehen Bildelemente verschwinden und auch, wie der Dieb mit großem Hut hastdunichtgesehen sich aus dem Raum schleicht. Tja. Jemand muss jetzt die Details finden und zurückbringen. Man kann in vier verschiedenen Einstellungen spielen: Kids‘ Level und dann Level 1 bis 3. Der Unterschied liegt in der Schwierigkeit, den Details Bildern zuzuordnen und darin, dass man in den höheren Leveln Punkte verliert bei Falschzuordnung. Oder, wenn man sich Unterstützung holt, indem man die Bildausschnitte ein wenig vergrößert. Zweimal ist das pro Ausschnitt möglich.
Zunächst wird einem das zu suchende Detail eines Bildes gezeigt – pro Spiel sind es fünf Details, die zuzuordnen man etwa eine halbe Stunde braucht. Insgesamt befinden sich 60 Rätsel im Spiel – da kann man schon eine Weile dranbleiben. Dann geht es ans Suchen. Man läuft durch das Museum, das Tablet in der Hand und vergleicht die Bilder, die man an den Wänden sieht, mit dem kleinen Ausschnitt, den das Tablet zeigt. Schnell merkt man, dass es gut ist, sich zunächst einen Überblick über die Räume zu machen, denn das zu suchende Bild kann sich überall in der Ausstellung befinden.
Man übt sich also im kursorischen Sehen, scannt Bilder auf charakteristische Merkmale, merkt sich, welche Bilder überhaupt in welchen Räumen sind und vor allem: man bewegt sich viel, viel schneller, als man sich üblicherweise in einem Kunstmuseum bewegt. Und dann wieder verlangsamt man den Schritt und fällt weit hinter das Tempo zurück, das man üblicherweise bei einem Museumsrundgang einsetzen würde. Denn nun gilt es, genau hinzusehen. Man sucht ja nicht Bilder, sondern Details. Diese Feder… nee, die ist grün und auch irgendwie anders gemalt. Hah! Noch ein Effekt dieser Suche: en passant, ohne lange Vorlesungen und gelehrte Führungen, lernt man, stilistische Merkmale zu unterscheiden. Vielleicht kann man die dann nicht immer korrekt benennen – ist das barock oder doch eher noch Mittelalter? Nee, das ist doch schon neunzehntes Jahrhundert. Ach, Quatsch … Eine sehr leichte, viel Freude bereitende Form des Lernens. Oophs, ja, ach ja, man lernt tatsächlich was. Man lernt sehen. Man lernt, was einem eine gute kunstwissenschaftliche Ausbildung vermittelt. Natürlich ersetzt das kein kunstwissenschaftliches Studium, aber es trägt doch Qualitäten dieses Studiums in die Gesellschaft, leistet also Transfer im besten Sinne. Und indem Studierende genau das vermitteln lernen, was sie selbst lernen, verstehen sie es selbst besser getreu dem alten Spruch, dass man etwas erst dann verstanden hat, wenn man’s unterrichten kann.
„Herr Kümmel-Schnur? Wir warten auf Sie?“ Jaja, denke ich, gleich gleich, nur den einen Gedanken noch fassen.
Wo war ich? Genau – wenn man ein Detail richtig zugeordnet hat, hält man das Tablet vor das Gemälde, bringt virtuelle und physische Welt zur Überlappung und – bingo! Bei einem erfolgreichen Match zeigt auch das Tablet das gesuchte Bild, eben das, vor dem man jetzt steht, und man kann sich einen kleinen Text dazu anhören. Auch dieser Text variiert mit den unterschiedlichen Leveln. Das wird, wenn man so will, zunehmend wissenschaftlicher. Mir persönlich haben die Bildbeschreibungen des Kids‘ Levels am besten gefallen. Die sind nämlich frei von allem gelehrten Zeug, historischen Einordnungen, stilistischen Merkmalen, mythologischen Narrativen – all dem Erwachsenenkram eben – und gehen mit frischem, scheinbar naivem Blick an das tatsächlich zu sehende heran. Da ist nicht eine Ecce Homo-Szene zu sehen, ein gegeisßelter Christus mit Dornenkrone, roten Mantel und Rohrkolben-Zepter, sondern einfach ein Mann, dem andere Männer fürchterlich weh tun. Der da allein sitzt. Dem keiner hilft.
Das ist ein Blick auf Bilder nicht nur für Kinder. Denn all der, pardon, Bildungsschrott hindert uns ja oft daran, das Wesentliche zu erkennen. „Der gegeißelte Christus“ – „Oh, seht diesen Menschen!“ Ja, drauf geschissen: das ist Folter! Das ist Abu Ghraib in der Antike. Mal ehrlich: wann haben Sie zum letzten Mal sich ihres Wissens entledigt, als Sie vor einem Bild standen und das Bild tatsächlich wieder gesehen? Da, dieser Federbusch am Helm – ganz schön eitel, der Typ! Dieses feine Bärtchen, die Haare so fein, man sieht sie kaum – ist das nun ein Mann oder eine Frau? Das ist etwas anderes, als über historische …
„Es wäre nun wirklich an der Zeit, dass Sie etwas sagten.“ Oh ja, es gucken alle schon erwartungsvoll und, nunja, vielleicht nicht mehr so froh. Ich sag ja was, erzähle denen all das, was mir gerade durch den Kopf ging und was ich ihnen gerade erzählt habe. Aber eines will ich noch los werden: wenn man alle Rätsel gelöst hat, dann kann man wieder an das Bild mit den geraubten Bildern zurückkehren und diese dort einfügen. Die Wände füllen sich – doch, ach – da hängen ja jetzt ganz andere Bilder auf dem virtuellen Abbild der Petersburger Hängung als auf dem Gemälde an der Wand. Es finden sich dort nun genau jene Bilder, die man bei der Detailsuche gefunden hat. Und das ist ja auch ein schöner Effekt: wer genau hinsieht, entdeckt Dinge, von denen er oder sie vorher nicht dachte, dass sie da wären.
Ich räuspere mich, lächele ins Publikum: „Sehr geehrte Damen und Herren …“
Text: Albert Kümmel-Schnur
Bilder: Kunstmuseum St. Gallen. Mit der SherLOOK-App in den Ausstellungen unterwegs.