Zwischen allen Stühlen … Was ist das eigentlich: Lernen?

Michael Kühl-Lenjer hat ein Buch darüber geschrieben, wie Lernprozesse auf Basis von Erkenntnissen der Gehirnforschung unterstützt werden können. Das Buch richtet sich vornehmlich an Praktiker der beruflichen Weiterbildung, insbesondere auch im Rahmen von Unternehmensconsulting. Seine Vorschläge können aber weit über diesen Rahmen hinaus produktiv zum Einsatz kommen.

„Wenn jemand gut forscht, dann gehe ich davon aus, dass er das mit der Lehre auch hinkriegt“, positionierte sich einmal der Prorektor für Lehre einer deutschen Universität mir gegenüber. Lehre ist in den Hochschulen immer noch ein Stiefkind: Karrieren werden über Forschungsleistungen konstruiert, die Verantwortung gegenüber Studierenden rangiert demgegenüber irgendwo zwischen grauem Alltagsgeschäft und lästiger Zumutung. Funktioniert die Lehre nicht so, wie Lehrende sich das vorstellen, dann wird meistens den Studierenden die Schuld gegeben: zu faul, zu dumm, zu unkonzentriert. Aber vielleicht – vielleicht müssten wir einfach besser verstehen, wie Lernen eigentlich geht.

Ein Weg, dieses Verständnis zu vertiefen, ist die Verknüpfung pädagogischer mit neurophysiologischen Einsichten. Seit der Mathematikdidaktiker Gerhard Preiß in den späten 1980er Jahren den Begriff „Neurodidaktik“ vorgeschlagen hat, entwickelte sich auch in Deutschland  ein Feld, das versucht, pädagogische und didaktische Intervention an die Erkenntnisse, wie das menschliche Gehirn Informationen aufnimmt, verarbeitet, speichert und löscht, zu knüpfen. Geht man davon aus, dass von instinktiven Reaktionen über willentliche Muskelbewegungen bis zur Emotionsverarbeitung und komplexen Denkvorgängen das Gehirn organisierend, steuernd oder mitsteuernd beteiligt ist, ist Neurodidaktik zunächst nichts weiter als: logisch.

Erinnerung notwendigerweise an Schmerz gebunden

Noch die brachialste schwarze Pädagogik arbeitet ja auf Grundlage einer Vorstellung, wie Lernen funktioniert. Friedrich Nietzsche etwa war überzeugt, dass Erinnerung notwendigerweise an Schmerz gebunden ist. Und, obgleich Nietzsche das wohl so nicht im Sinn hatte, könnte sich die Rohrstockpädagogik genau auf diese Idee berufen. Wie wir unterrichten, ist also explizit oder implizit von einer Auffassung des Erreichens von Lernerfolgen getragen. So ordnen unsere gegenwärtigen Bildungsinstitutionen fast ausnahmslos Lernenden numerisch Ränge zu (vulgo: Noten). Hier ist, gut kapitalistisch, nicht der Schmerz, sondern der Glaube an eine das Geschäft belebende Konkurrenz die diese Praxis begründende Meinung. Auch sie wird man in einer hoffentlich nicht allzu weit entfernten Zukunft bestenfalls belächeln.

Meine Gründe, das Buch von Michael Kühl-Lenjer zu rezensieren, illustrieren seine zentralen Thesen bestens. Zufällig sah ich beim Frühstück einen aufgeschlagenen Südkurier auf unserem Küchentisch liegen. Das erzeugt bei mir normalerweise kaum Interesse. Beim flüchtigen Blick auf die Zeitung erkannte ich jedoch Michael Kühl-Lenjer auf einem darin abgedruckten Foto. Da ich ihn schon länger kenne, war mein Interesse geweckt – was macht der denn da? Ich nahm den Artikel zur Hand. Es war ein Interview zum Thema ‘Lernen’. Siehe da! Ein Thema, über das ich mich mit ihm hin und wieder kursorisch ausgetauscht hatte und immer wieder festgestellt hatte, dass wir ähnliche Überzeugungen vertreten. Also ein klassischer Fall von Mustererkennung und sanft emotionalen Triggerns. Ich war also nun motiviert, das Interview zu lesen und fand mich durch Kühl-Lenjers Aussagen auch noch in meiner Vormeinung bestätigt: nichts tun wir so gern, als uns in unseren Vorurteilen und Blasenzugehörigkeiten immer wieder bestärken zu lassen. Das ist so schön einfach.

Mein Alarmsystem sprang an

Das Interview war aus Anlass des Erscheinens seines Buches „Lernen mit Hirn“ erschienen. Könnte man ja mal ganz lesen. Ich bat den Autor deshalb, mir das Buch zur Rezension zuzusenden, was er auch tat. Doch dann?! Irritierte mich ein erster Blick auf den Umschlag: eine bonbonbunt bekleckste Schemazeichnung des menschlichen Gehirns war dort neben einem in gewollt unbeholfener Handschrift gesetzten knallroten Titel platziert. Mein Alarmsystem sprang an. Und damit ungute Gefühle: eine Rezeptionssituation also, die einem offenen Austausch von Gedanken deutlich entgegenstand. Dazu das schlechte Gewissen – auch nicht sehr lernförderlich -: was mache ich, wenn mir der Inhalt des Buches nicht gefällt? Schreibe ich dann einen Verriss? Und streite mich später mit dem Autor, der mir freundlicherweise das Buch zur Besprechung überlassen hatte?

Damit sind wir schon mittendrin in den Thesen des Buches: erfolgreiches Lernen, d.h. eine Veränderung dessen, was wir ohnehin schon wissen, verknüpft die Vermittlung von Wissen mit Emotionen. „Der Herzschrittmacher im Kampf für das Behalten und gegen das Vergessen bleibt die Einbettung der Inhalte in positive Emotionen. […] Lernen ohne Gefühle geht nicht.“ (S. 119)

„Herzschrittmacher“? Ich tue mich schwer mit dieser Metapher. Ich tue mich schwer mit fett gedruckten Merksätzen, Glühlämpchenzeichnungen und der penetranten Nennung akademischer Titel, die in populärer Literatur Argumente durch Autoritätsanmutung ersetzen. Die layouterische und illustratorische Rahmung des Textes zeigen mir deutlich: ich bin nicht gemeint. Der Verlag, in dem es erschienen ist – BusinessVillage – veröffentlicht Ratgeberliteratur gerichtet an Unternehmen. Michael Kühl-Lenjer adressiert häufig Trainer:innen und Dozent:innen in der Weiterbildung. Sein Buch zielt auf diese Gruppe und möchte durch neurodidaktische Impulse deren Arbeit verbessern. Warum also sollte ich es lesen? Oder, viel wichtiger: Sollten Sie dieses Buch lesen?

Themenbindung durch emotionalen Bezug

Wenn Sie sich für Lehre interessieren oder aber Lehrende führen, lautet die Antwort: Ja. Unbedingt. Denn wiewohl der Rahmen das Bild macht, sind Rahmen und Bild doch nicht identisch. Mein persönlicher Lese- und Lernweg bestätigt die Thesen Kühl-Lenjers: Aufmerksamkeitserregung durch Mustererkennung, Bestätigung und Verstärkung bestehender Muster durch intensivierende Wiederholung, Themenbindung durch emotionalen Bezug, Irritation als Öffnung neuer Tore und Wege. Und mir gefällt, dass alle Thesen des Buches mit Fragezeichen versehen sind und damit dem Genre ‘Ratgeber’ ein wohltuend tastendes Element hinzufügen.

Das Buch ist in drei Kapiteln strukturiert. Sie tragen die Titel „Gehirn“, „Lernen“ und „Lehrpraxis“. Das Gehirn beschreibt Kühl-Lenjer als ein gerade in seinen scheinbaren Dysfunktionalitäten („Vergessen“) hocheffizientes dynamisches Organ, ohne seine Leistungen auf das Kognitive zu verengen. Im Gegenteil: Bewegung, Entspannung, Schlaf, gute Laune, Raum für die Unplanbarkeit guter Ideen werden als zentrale Rahmenbedingungen für nachhaltiges Lernen beschrieben. Multitasking und Häppchenlektionen wird eine deutliche Abfuhr erteilt. Druck und Angst als entscheidende Lernverhinderer beschrieben:

Kreativität ist Intelligenz, die Spaß hat

„Von Frederico Fellini stammt der Satz: ‘Kreativität ist Intelligenz, die Spaß hat.’ Und Stress und Druck bereiten keinen Spaß. Die Amygdala springt bei negativen Emotionen an, das Stress-System des Körpers wird eingeschaltet und sorgt dafür, dass Unmengen Kortisol in den Blutkreislauf gelangen. Dieses Hormon signalisiert: ‘Achtung, Gefahr droht!’ Der Organismus wird in einen Kampf- oder Fluchtzustand versetzt. Dass in dieser Situation kein Platz für kreative Einfälle besteht, ist nicht verwunderlich.“ (S. 129)

Wer die Operationsmodi unseres Gehirns missachtet, kann nicht erfolgreich lehren und lernen. Das ist die einfache und plausible Botschaft von Michael Kühl-Lenjer. Das bedeutet auch zu verstehen, warum wir dazu neigen, Vorurteile und -meinungen zu reproduzieren, statt zu durchbrechen: „Denken kostet Energie und Zeit, und unser Oberstübchen will beides sparen.“ (S. 131) Die größte und wichtigste Bedingung für gelingendes Lernen ist demnach die Fähigkeit, alte Muster als solche zu erkennen, sie zu erweitern oder abzulegen und neue Muster zu erkennen. Dabei können wir uns darauf verlassen, dass unser Gehirn süchtig nach Neuem ist und sich ungern langweilt. Lehre muss also gleichermaßen anschlussfähig an bereits Bekanntes wie auch anreizend für Neues sein.

Wenn dem so ist, dann müssen wir uns fragen, ob unsere Bildungsinstitutionen – Sie merken, das Schicksal von Unternehmen kratzt mich herzlich wenig – so eingerichtet sind, dass diese Fähigkeit, Kühl-Lenjer nennt sie „Kreativität“, unterstützt oder gehemmt wird. Es ist mithin die alte Frage, ob wir für die Schule oder für das Leben lernen und die Antwort darauf ist eben kontraintuitiv. Wir organisieren Lernen jedoch meist so, dass belohnt wird, wer sich systemkonform verhält und nicht etwa, wer die besten Ideen hat. Erfolgreich in unseren Prüfungen ist, wer gut verstanden hat, wie Prüfungen funktionieren und nicht etwa, wer die in den Prüfungen abgefragten Inhalte am besten verstanden hat.

Unser Gehirn ist kein Datenspeicher

Ein radikal auf Konkurrenz abgestelltes, in unsere kapitalistische Wirtschaftsweise perfekt eingebettetes System, dessen Parameter Leistung und Wachstum und nicht etwa das gute Leben und das Wohl des aller sind – auch das wären ja mögliche Bildungsziele. Glaubt man Kühl-Lenjer, dann wäre ein solch kooperatives Arbeiten auch der Funktionsweise unseres Gehirns angemessener: „Unser Gehirn ist kein Datenspeicher, sondern ein soziales Organ. Die größte Motivationsdroge für den Menschen ist der andere Mensch. Lernen braucht den menschlichen Kontakt zwischen Lernenden und Lehrenden, vor allem aber zwischen den Lernenden untereinander. Lernprozesse, die in soziale Situationen eingebunden sind, verlaufen deutlich wirksamer. Vor allem das Bindungs- und Vertrauenshormon Oxytocin fördert die Motivation und den Beziehungsaufbau zwischen den Seminarteilnehmer.“ (S. 138)

Ich lasse diesen Text mit diesem Zitat enden, auch auf die Gefahr hin, seine Aussagen an dieser Stelle interpretatorisch doch ein wenig überdehnt zu haben. Nicht besprochen habe ich die vielen ganz konkreten Tipps zur Gestaltung von Lehr- und Fortbildungsveranstaltungen insbesondere im dritten Kapitel. Hinweisen möchte ich aber noch auf die sogenannte „digitale Toolbox“, eine digitale Ergänzung des Buches mit Materialien und Übungen, verfügbar über einen QR-Code zu Anfang des Buches – eine pfiffige Idee, hybrid Lernmaterialien verfügbar zu machen.

Michael Kühl-Lenjer: Lernen mit Hirn. Neurodidaktische Impulse für eine gehirngerechte Aus- und Weiterbildung, Göttingen: BusinessVillage 2022, 273 S., 34,95 Euro.

Text: Albert Kümmel-Schnur, Bild:Wilhelm Busch via Wikipedia: Dieses Werk ist gemeinfrei, weil seine urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist.