Lebensgeschichten (1): „Tief im Innern möchte ich den Leuten wohl einfach nur gefallen!“
Ralf Kleinehanding wirkt wie der ideale Protagonist für diese Themenreihe. Nicht, weil seine Lebensgeschichte so aufregend ist. Es sind eher die Interviews, die unkomplizierter ausfallen als mit anderen Gesprächspartner*innen. Der Grund: Ralf erzählt buchstäblich wie ein Buch. Ich hätte nur mitschreiben müssen und eine vollständige Biographie von ihm beisammengehabt. Kein Füllwort, kein unbeendeter Satz, kein einziges offengebliebenes Detail. Ich bin wohl nicht die Erste, der er seine Geschichte erzählt.
Im Gegenteil, Ralf ist, meiner Einschätzung nach, stadtbekannt. Weder für den Musikteil im Südkurier Konstanz noch für das Theater oder die Philharmonie hier vor Ort ist er ein unbekannter Name. Und auch ich kenne ihn schon seit Kindertagen.
Ralf im Labyrinth der Buchstaben
Doch war es kein gerader Weg zu dem talentierten Percussionisten und bekannten Komponisten, der er heute ist. Im Jahr 1965 in Frankfurt geboren, fielen seine Schwächen in der Grundschule schnell auf. Legasthenie. Buchstaben und vor allem deren Kombinationen waren nicht seine Sache. So kam es, dass er die dritte Klasse auf Wunsch der Eltern wiederholte und auf eine Sonderschule geschickt werden sollte.
Die Eltern, ein Architekt und eine bildende Künstlerin, entschieden sich dann doch, den kleinen Ralf auf eine Gesamtschule zu schicken. Eine Gesamtschule ist dem Modell der Gemeinschaftsschule sehr ähnlich. Ein inklusives Schulmodell, in welchem Schüler*innen der verschiedenen Niveaustufen nach der vierten Klasse weiterhin gemeinsam lernen können. Die Schüler*innen können dort auch individuell zwischen diesen Niveaustufen wechseln. Bis zu welcher Klassenstufe diese gemeinsame Beschulung angeboten wird, ist unterschiedlich.
Ralf besuchte zunächst die Orientierungsstufe innerhalb der fünften und sechsten Klasse. In dieser Zeit waren die Schüler*innen noch frei, herauszufinden, was in den verschiedenen Fächern in ihnen steckte. Hier war es ausgerechnet die Deutschlehrerin, die Ralfs Talent entdeckte und förderte. „Frau Oldenburg“, sagt Ralf glücklich. Er erinnert sich bis heute an ihren Namen. Sie setzte sich dafür ein, dass Ralf auf das Gymnasialniveau wechseln und Abitur machen konnte.
„Für den Ralf wäre es gut, wenn der Schlagzeug spielt“
Kaum war dieses Ziel erreicht, trennten sich seine Eltern. Für Ralf ein herber Einschnitt. Seine Situation als Teenager ein halbes Jahr vor dem Auszug aus dem gemeinsamen Haus der Familie beschreibt er so: „Du denkst dann, dein Leben ist vorbei: Ich habe nur noch ein halbes Jahr und dann ist Ende.“
Während Ralf zur Mutter zog, kam das zwei Jahre ältere Geschwisterkind beim Vater unter und Ralf vermisste seinen Bruder. Halt fand er in der Musik. Er begann Schlagzeug zu spielen, gründete erste Bands und erlebte erste Erfolge. Für den unruhigen, oft unkonzentrierten und wenig selbstbewussten Ralf ein Zugewinn. Auch die Lehrer*innen hätten gesagt: „Für den Ralf wäre es gut, wenn der Schlagzeug spielt.“
Tatsächlich hat die Legasthenie ihn schon in jungen Jahren viel Selbstbewusstsein gekostet. Mir gegenüber beschreibt er es heute als seine „andere Seite“. Nach außen hin wirke er inzwischen oft sehr selbstbewusst. Seine „andere Seite“ werde aber deutlich, wenn es darum ginge, gegen alle Widerstände für seiner Meinung einzustehen. Er sei kein Mensch, der die Konflikte suche.
Mit zwanzig Jahren absolvierte Ralf sein Abitur. Anders als in Baden-Württemberg üblich, musste er das Fach Deutsch damals nicht als Abiturfach belegen. Hierzulande hätte er eher kein Abitur machen können, vermutet er. Stattdessen belegte er unter anderem das Leistungsfach Biologie, in welchem er stets Einsen nach Hause brachte. Andererseits hatte er aber auch das Leistungsfach Gemeinschaftskunde gewählt. „Da war ich richtig schlecht!“, erinnert er sich lachend.
Nach dem Abitur entschloss er sich, den Zivildienst in einer Förderschule abzuleisten. Er merkte gleich, dass diese Arbeit kein Zukunftsmodell für ihn war. Die routinierten Abläufe, die fehlende Abwechslung im Alltag dieser Einrichtung. Ralf wollte einen Berufsalltag, in dem sich jeder Tag anders gestaltete, immer neue Herausforderungen ins Haus standen und Routine ein Fremdwort war.
Ralf übte viel
Zugleich spielte die Musik in seinem Leben eine immer größere Rolle. Ralf nahm Schlagzeug- und Klavierunterricht, übte neben dem Zivildienst oft sechs Stunden täglich. „Ich habe da richtig losgelegt, weil mir das so einen Spaß gemacht hat!“ Er schwärmt noch heute von seinen ersten Begegnungen mit dem klassischen Schlagzeug: „Xylophon – das fand ich megageil!“
Seiner ersten Idee, Klavier studieren zu wollen, bereitete sein Lehrer ein jähes Ende. Dazu hätte er bereits als Kind mit dem Klavierspielen anfangen müssen. Stattdessen solle er es doch mit „klassischem“ Schlagzeug probieren. Nach seinem fast zweijährigen Zivildienst musste Ralf noch ein Jahr üben, um in Darmstadt für ein Musikstudium angenommen zu werden.
Das Studium stellte sich als anspruchsvoll heraus. Aber es war genau sein Ding. Er erhielt die Möglichkeit, durch ein Volontariat beim dortigen Staatstheater Orchestererfahrung zu sammeln, besuchte die ersten Kurse über Neue Musik und lernte in Darmstadt seine spätere Frau kennen. Ralf übte viel. Deutlich mehr als notwendig. Seine Legasthenie hat in dieser praxisgeprägten Musikwelt wohl kaum mehr eine Rolle gespielt. Trotzdem kam auch beim Schlagzeugspielen der Gedanke auf, nicht gut genug zu sein.
Zu aufgeregt, zu nervös
Erfolglos absolvierte er einige Probespiele – er war zu aufgeregt und nervös, die Grundlagen saßen zu wenig. In Darmstadt hatte er das Gefühl festzustecken, nicht mehr weiterzukommen. Ein befreundeter Professor aus Frankfurt riet ihm: „Ralf, du musst da weg!“ Auf den Rat dieses Freundes hin nahm er in Trossingen an der Aufnahmeprüfung für ein Schlagzeugstudium teil – und flog durch. Er rief den dortigen Professor an. „Sie haben ganz schlecht gespielt!“ Ralf nahm die Kritik zur Kenntnis und überredete den Professor unbeirrt, ihn zu unterrichten. Beim nächsten Versuch bestand er die Aufnahmeprüfung und begann sein Studium in Trossingen.
Noch während des Studiums wurde der erste Sohn geboren, später zog es die Familie nach Konstanz. Seither unterrichtet Ralf Schlagzeug an der Musikschule Konstanz.
Neue Musik!
Neue Musik faszinierte ihn von Beginn an. Nachdem er erste Kompositionen in diesem Musikgenre beendet hatte, entschloss er sich mit über vierzig zu einem Kompositionsstudium in Trossingen. Wieder betrieb er dieses Studium mit größter Begeisterung und unbeugsamer Leidenschaft. Doch dann hob die Hochschule die Studiengebühren an. Inzwischen galt es, eine vierköpfige Familie zu versorgen und die Konstanzer Mieten waren in dieser Situation auch nicht gerade ideal – „Konstanz ist sauteuer!“. Kurzum: Es war das Kompositionsstudium, das dran glauben musste.
Eine neue Idee war schnell gefunden. Schon bald lag er dem damaligen Chefdramaturgen des Konstanzer Stadttheaters, Thomas Spiekermann, mit der Bitte in den Ohren, er würde dort gern ein Musiktheater veranstalten. Kurze Zeit später hatte der Intendant Christoph Nix die Idee, eine Oper über einen Mord auf dem Säntis auf dem Säntis zu inszenieren. Kleinehanding könnte diese Oper doch schreiben. Allerdings wurde am Ende nichts aus dieser Zusammenarbeit.
Stattdessen entstand die Idee, eine eigene Veranstaltungsreihe für Neue Musik am Stadttheater ins Leben zu rufen. Für Ralf ein weiterer „Meilenstein“. Mit eigenem Budget und dem flotten Titel „High Noon Musik 2000+“ machte er sich schnell ans Werk, schrieb sogar für jedes einzelne seiner Konzerte einen individuellen Aperitif, ein Eröffnungsstück.
Heute – die Ära der „High Noon“-Konzerte
Nach sieben Jahren mit jeweils vier Konzerten entschied sich das Stadttheater mangels Konzertbesucher*innen dazu, die Veranstaltungsreihe zu begrenzen. Es sollten jährlich nur noch zwei Konzerte stattfinden. Ja, die Zahl der Konzertbesucher*innen war schwankend. Die allerdings, die kamen, waren feste Stammhörer*innen. Ein eingefleischter, sturer Kreis „High Noon“-Liebhaber*innen, die sich resolut gegen die Unverschämtheit wehrten, diese Musik nur noch zwei Mal im Jahr genießen zu können.
Sie fackelten nicht lange und überredeten Ralf dazu, eigens für seine Konzerte einen Verein zu gründen. Seit 2017 existiert dieser Verein mittlerweile, beantragt öffentliche Gelder und veranstaltet „High Noon“-Konzerte in der ganzen Stadt. Das Konzept: Es werden viele Kompositionen von Ralf gespielt und kaum etwas, das vor dem Jahr 2000 entstanden ist.
Auch Ralfs Kollege Peer Kaliss unterstützte die Idee und rief die Jugendkonzerte der Veranstaltungsreihe auf den Plan. Nachdem zuvor bei den Konzerten nur Profis aufgetreten waren, sollten die Jungen von der Städtischen Musikschule die Möglichkeit bekommen, ihr Können zu zeigen.
„Mit Gewalt, da funktioniert das bei mir nicht“
Ralf kann also, wie jede*r von uns, auf einiges in seinem Leben zurückblicken, auf Erfolge wie Misserfolge. Auf zwölf Jahre „High Noon Musik 2000+“, auf viele erfolgreiche Schüler*innen, die er durch die prägendsten Jahre ihres Lebens begleiten durfte, aber auch auf den Dreierdurchschnitt im Abitur.
Ralf lebt nur noch aus dem Bauch heraus. „Mit Gewalt, da funktioniert das bei mir nicht“, erklärt er. Er macht sich viele Gedanken darüber, wie er leben möchte. Das Leben sei für ihn ein „ständiges Suchen vom Sinn“. Das Unterrichten sei sinnvoll, ein Zurückgeben dessen, was ihm geboten wurde. Zugleich sei er als Künstler aber auch „egoistisch“ – oder vielleicht auch einfach selbstbewusst und stark.
Da ist der Ralf, der genau weiß, was er will, und doch will er den Leuten auch heute „lieber gefallen“. Heute hört er gerne Billie Eilish. Sein Lieblingssong „When the party´s over” beschreibt auf dramatische Art und Weise, wohin uns der Wunsch, zu gefallen, führen kann.
Autorin: Lena Rapp
Bildrechte: Ralf Kleinehanding
Bildbeschreibung für Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen: Das Bild zeigt Ralf Kleinehanding. Mit konzentriertem, nach unten gerichtetem Blick lässt er die Schlägel über das Xylophon gleiten. Er trägt schwarze, elegante Kleidung und steht vor einem hellen Hintergrund.