Lebensgeschichten (3): Zivilcourage

„Die Teilnehmer sind ja nicht völlig lebensunfähig, sondern die haben keinen Job“ – Petra Wolf vor der Frankfurter Börse

Petra Wolf wuchs in einer großen Familie auf. Die Eltern waren sehr beschäftigt, die Kinder kümmerten sich eher um sich selbst. Petra genoss viele Freiheiten, doch die Narben in ihrem Gesicht und an ihrem ganzen Körper zeugen davon, dass sie es nicht immer leicht im Leben hatte. Sie wuchs zunächst in der Großstadt auf und lebte frei von gesellschaftlichen Konventionen. Das änderte sich, als ihre Familie auf die Schwäbische Alb zog.

In der dörflichen Grundschule lief es nicht gut. Petra war kein typisches Mädchen und passte nicht ins damals übliche Rollenklischee. Sie war selbstbewusst, machte sich dreckig und raufte sich mit ihren Klassenkamerad*innen. Diese Andersartigkeit ließ man sie auch spüren. „Schule war furchtbar, dieses Dorf war furchtbar! Da durfte man gar nicht mehr sein, wie man ist.“

Auf dem Gymnasium in der nächstgelegenen Stadt wendete sich das Blatt. Die Schulleitung zeigte für die Belange der Schüler*innen zwar wenig Verständnis. Außerdem hielten einige Lehrer*innen noch immer an der Schwarzen Pädagogik fest. Dennoch fand sie unter den Mitschüler*innen und auch im Lehrerkollegium gute Freunde.

Couragiert setzte sie sich als Schulsprecherin für die Belange ihrer Mitschüler*innen ein. Sogar gegen den übergriffigen Geschichtslehrer zog sie ins Feld. Dieser erwartete nicht nur den sogenannten „Hitlergruß“ zur Begrüßung. Er erpresste die minderjährigen Mädchen in Petras Klasse auch, wochenends mit ihm das Freibad zu besuchen. Als Petra dagegen protestierte, bekam sie von ihm kurzerhand nur noch Noten zwischen sechs und sieben-bis-acht. Vor versammelter Schulkonferenz verlangte Petra schließlich dessen Rauswurf. Gegen den Protest ihrer Mitschüler*innen wurde sie lediglich zum Nachsitzen verdonnert, ansonsten wurde nichts unternommen. Aber Petra blieb stur. „Ich bin dann einfach nicht mehr in dem seinen Unterricht gegangen, die hätten mich totschlagen dürfen.“

„Das wars“

Und dann brach die Welt zusammen. Der Chemielehrer, mit dem sie eine eigentlich verbotene Beziehung führte, schwängerte seine Kollegin. Gesundheitliche Probleme machten ihr zu schaffen. Ebenso hatten sich ihre Noten so sehr verschlechtert, dass sie sitzen blieb. Das war zu viel. Ihr Körper kapitulierte. In all dem Stress habe sie sich plötzlich nicht mehr bewegen können. Statt eines Arztes oder ihrer Eltern rief man wie selbstverständlich ihren Chemielehrer an. Dieser nahm sie mit zu sich nach Hause und kümmerte sich dort in den folgenden Wochen um sie. Während er viel auf sie einredete, sich rechtfertigte, erklärte, lag Petra nur teilnahmslos da und sagte nichts. „Und dann ist mein Körper irgendwann aufgestanden und ist gegangen – das wars.“

Wenig später verließ ihr Chemielehrer die Schule. Petra wiederholte das Schuljahr. Sie gab ihren Posten als Schülersprecherin auf, reduzierte ihre schulischen Kontakte auf ein absolut notwendiges Maß.

Irgendwie bestand sie die Mittlere Reife. Mitten im Winter begann sie ein Landwirtschaftliches Praktikum. Auf dem Bauernhof wohnte sie lediglich in einer ungedämmten Baracke. Es war schrecklich kalt. Selten fuhr sie nach Hause, nur um sich für mindestens vier Stunden in eine kochend heiße Badewanne zu legen.

Ihre Mutter war empört. All das heiße Wasser, wisse sie denn nicht, was das koste? Allein die Frage war für Petra ein Schlag ins Gesicht. „Als würde sie mir nicht helfen wollen, nicht zu erfrieren.“ Sie sei ihrer Mutter gegenüber oft ungerecht gewesen. Noch heute habe sie ein schlechtes Gewissen.

Im Frühjahr wechselte Petra auf ein gut beheiztes Wirtschaftsgymnasium. Nach der elften Klasse brach sie auch dieses ab. Selenruhig entschied ihre Mutter, dass es nun genug sei und warf sie Zuhause raus. „Das liebe Kind“ dürfe wiederkommen, sollte es einen Job gefunden haben. Nur wenige Tage später begann Petra eine Mechanikerlehre. Beim Umrüsten der Maschinen kugelte ihr aufgrund einer erblichen Knochenkrankheit ständig die Schulter aus. Nach der Zwischenprüfung unterzog sie sich einer Operation, die jedoch keine Verbesserung brachte. Glücklicherweise konnte sie durch die Förderung des Arbeitsamts stattdessen eine Ausbildung zur Tierarzthelferin beginnen.

„Wenn ich wieder anfange, zu saufen, musst du gehen.“

Als kostenlose Azubine habe sie in der ersten Woche nur rasenmähen, einkaufen und im Haushalt helfen dürfen. Sie musste sich erst nachdrücklich bei ihren Chef, einem schweren Alkoholiker, darüber beschwerten, damit dieser sie mit zu den Landwirt*innen nahm.

„Wenn ich wieder anfange, zu saufen, musst du gehen“, das musste sie ihrem Chef versprechen, als er sie zum ersten Mal mit auf Praxis nahm. Lange Zeit gab dieses Versprechen ihm die Kraft, nicht wieder zu trinken. Um Schlachtschweinen den Stress beim Transport zu ersparen, verabreichter er diesen Beruhigungsmittel. Jahre später wurde er von seinem Kollegen deswegen angezeigt wurde. Da griff er wieder zur Flasche und der anfängliche Traumjob wurde für Petra zum Horrortrip.

Die extremen Stimmungsschwankungen und zeitweiligen Übergriffigkeiten ihres suchtkranken Chefs machten Petra zunehmend zu schaffen. Oft saß er abends, wie ein Geist, in ihrer praxiseigenen Wohnung auf der Couch, wenn Petra nach Hause kam. Zudem blieb immer mehr Arbeit an ihr hängen. Im Gespräch mit den Kund*innen sei ihr mit der Zeit aufgefallen, dass sie vor lauter Stress nicht mehr deutlich sprechen konnte. Stattdessen lallte sie im Dauerstress manchmal so sehr, als sei sie die Alkoholikerin in diesem Hause. Es ging nicht mehr. Petra hielt ihr Versprechen und kündigte.

Unheimlich nett

Wenig später fand sie in der Schweiz eine gut dotierte Stelle. Zu Beginn verstand sie wenig von dem, was die Ortsansässigen auf Schweizerdeutsch zu ihr sagten.  Obendrein waren sie so ungewohnt höflich. Von Anfang an wurde sie mit ihrem Namen angesprochen. Im Schwäbischen käme allein das einem Heiratsantrag nah. Paradoxerweise fühlte sich Petra durch die für sie schon fast unheimlich anmutende Zuvorkommenheit ihrer Mitmenschen in ihrer neuen Heimat fremd und bald auch sehr einsam. Nur schwerlich gelang es ihr, Fuß zu fassen.

Später verkaufte ihr Schweizer Chef seine Praxis. Die neuen Arbeitgeber*innen übernahmen zwar alle Mitarbeitenden des vorherigen Chefs. Jedoch wurde Petra kurz darauf schwanger. Die neuen Praxiseigentümer*innen erwarteten von ihr, dass sie bereits sechs Wochen nach der Geburt wieder zur Arbeit kommen würde. Vor 2005 gab es in der Schweiz nämlich noch nicht einmal zum Mutterschutz eine gesetzliche Regelung. Petra kündigte daher erneut.

Die „Bilderbuch-Familie“

Auch wenn es schöne Zeiten gab, zuhause herrschte oft Streit. Dieser Stress machte Petra herzkrank. Sie musste operiert werden, doch es wurde nicht besser. Die so sehr gewünschte „Bilderbuch-Familie“ bekam auch nach außen hin Risse, „weil ich einfach schwächelte“, erzählt Petra. Sie hatte keine Kraft mehr, fasste den Entschluss, mit ihrem Kind auszuziehen.

Als hätten sie genau darauf gewartet, war die Unterstützung auf einmal da. Nachbar*innen, Freund*innen und Familie waren zur Stelle und halfen, wo sie nur konnten. „Ab dem Moment, wo ich gesagt habe: „Ich kann jetzt nicht mehr“. Dann hat es plötzlich funktioniert. All meine Träume sind in Erfüllung gegangen.“

„Kein Selbstbewusstsein, nichts mehr, nur noch Dreck!“

Petra arbeitete damals als Hauswirtschafterin in einem Heim für schwererziehbare Kinder. Die Überforderung der wenigen verantwortlichen Betreuer*innen mit den vielen schwer traumatisierten Jugendlichen sei groß gewesen. So sei es vorgekommen, dass besonders aggressive Kinder von den Betreuer*innen gezielt provoziert worden seien, nur um sie nach einem Wutausbruch wieder in eine geschlossene Anstalt einweisen zu können. In diesen Anstalten seien die Kinder dermaßen mit Medikamenten abgefüllt und an Halterungen so lange fixiert worden, dass sie für die Betreuer*innen im Heim danach wieder umgänglicher gewesen seien, „eben kein Selbstbewusstsein, nichts mehr, nur noch Dreck“. Ein Salatkopf für 30 Cent, den Petra ihrer Wohngruppe entgegen der Vorschriften versehentlich zu viel zum Mittagessen angerichtet hatte, brachte ihr dort, nach eigenen Angaben, die Kündigung ein.

Diverse Jobs später war Petra wieder arbeitslos. Über das Jobcenter bekam sie eine Weiterbildung zur Personalfachkraft angeboten, arbeitete einige Monate in diesem Beruf. Dann hatte sie genug davon, die Bewerber*innen bezüglich der schlechten Arbeitsbedingungen zu belügen. Sie entschloss sich zu einem Tapetenwechsel, zog um und war wieder arbeitslos. Zielstrebig sei sie dort direkt zur Bürgermeisterin gegangen und habe diese nach Arbeit gefragt. So erhielt sie zumindest einen Minijob bei der Stadt.

Eine gute Quote

Nach unzähligen Bewerbungen „als alles“ war sie bei einem Bildungsträger gelandet, dessen vom Jobcenter geförderte Maßnahme gerade im Begriff war, aufgelöst zu werden. Zusammen mit ihrem Kollegen gelang es ihr, die Maßnahme zu retten. Jedoch musste der Bildungsträger Stellen einkürzen. Innerhalb von drei Tagen kam Petra bei der Konkurrenz unter. Als Standortleiterin begleitete sie für diesen Bildungsträger nun mehr als drei Jahre langzeitarbeitslose Menschen auf ihrem Weg. Lediglich 17 von 43 Teilnehmer*innen konnte sie im letzten Jahr in Arbeit vermitteln. Dennoch: Eine gute Quote.

Nun wurden die gesetzlichen Regelungen geändert. Auch wenn das neue Gesetz zur Bürgergeldreform die Beziehungen zwischen arbeitslosen Menschen und dem Staat verbessern soll, so sind Sanktionen dennoch weiterhin vorgesehen. Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten sollen intensiviert und die persönliche Betreuung in den Jobcentern stärker individualisiert werden.

Laut dem Bundesamt für Arbeit und Soziales (BMAS) fiele allerdings aufgrund der „schwierigen Haushaltslage“ in diesem Jahr auch das Budget der Jobcenter geringer aus. Manuel Thumm, wissenschaftlicher Mitarbeiter von Jessica Tatti, Mitglied im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales, gibt außerdem zu bedenken, dass für die gewünschten Aus- und Weiterbildungen, auch durch die im Zuge der Bürgergeldreform gestiegenen Verwaltungskosten, in der Praxis kaum mehr ausreichend Geld vorhanden sei.

Von der Bürgergeldreform hätte sie sich mehr erhofft

Genau das trifft nun auch Petra Wolf. Das örtliche Jobcenter verlängerte die von ihr geleitete Weiterbildungsmaßnahme nicht. Sie ist ihren Job los. Von der Bürgergeldreform hatte sie sich insgesamt mehr erhofft.

Als Jobcoach kennt sie die Schwierigkeiten in der Betreuung von Langzeitarbeitslosen. Sie kennt aber auch die gegenteilige Sichtweise aus eigener Erfahrung. „Ob man Arbeit hat oder nicht, ändert ja nichts daran, dass man ein Mensch ist, Bedürfnisse, Hoffnungen, Wünsche, Angst und Ärger hat. Man ist ja nicht weniger, bloß weil man keine Arbeit hat. Die Teilnehmer sind ja nicht völlig lebensunfähig, sondern die haben keinen Job.“

Viele ihrer Teilnehmer*innen leisteten auf anderem Wege Positives für die Solidargemeinschaft. Einer habe zum Beispiel auf den Hund seines Bekannten aufgepasst, sodass dieser eine Reha machen konnte. Auch arbeitslose Menschen und vielleicht gerade diese können anderen Menschen Kraft geben, Ressourcen für wirtschaftliche Lohnarbeit, argumentiert sie. „Nicht jede Leistung wird in Deutschland entsprechend ihrem tatsächlichen Wert für die Gesellschaft bezahlt.“ Vielleicht wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen oder ein Bürgergeld ohne jegliche Sanktionierung daher der richtige Weg. Sowieso sei sie für die Idee, dass jeder tut, was er kann, weil er es kann und es ihm guttut. „Wem seine Arbeit Spaß macht, der macht sie schließlich auch gut.“

Der Song ihres Lebens

„Eine letzte Frage noch: Was ist für dich der Song deines Lebens?“ „Der Bolero natürlich.“, antwortet Petra wie aus der Pistole geschossen. „Schade, dass er überhaupt keine Musik enthält“, hätte dessen Schöpfer, Maurice Ravel, wohl noch hinzugefügt. Denn der „Bolero“ ist eine schlichte 18-malige Wiederholung des immergleichen musikalischen Themas. Kein Text, keine Variationen, noch nicht einmal ein Tempowechsel. Überhaupt keine Entwicklung? Nein, denn der Bolero wird mit seinen Wiederholungen ganz allmählich immer lauter. Eigentlich simpel, für Orchester und Dirigent dennoch eine Mammutaufgabe. So manches Meisterwerk des Lebens gelinge eben nur mit Geduld, Ausdauer und durch die Unterstützung aller Beteiligten, erklärt mir Petra.

Autorin: Lena Rapp
Bildrechte: Petra Wolf

Bildbeschreibung für Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen: „Petra Wolf steht neben der Bronzeskulptur von „Bär und Bulle“, geschaffen von Reinhard Dachlauer, vor der Frankfurter Börse. Sie greift nach den Hörnern des Bullen, erwischt jedoch lediglich dessen linkes Ohr. Sie hat blonde Haare, trägt ein T-Shirt und einen Rucksack auf dem Rücken. Ihr Gesicht ist verpixelt.“