Lebensgeschichten (4): „Der Islam ist eine schöne Religion“

Karim Saleh vor seiner ehemaligen Berufsschule

Karim Saleh lebt in einer Kleinstadt, geht einer Arbeit in der Gastronomie nach und scheint ein durchschnittliches Leben zu führen. Doch wie er hier am Küchentisch sitzt und einen Löffel Zucker nach dem nächsten in seinen Kaffee schaufelt, hat er einiges zu erzählen, das schwer zu glauben ist.

Das Erste, an das sich Saleh noch erinnern kann, ist seine drogensüchtige Mutter. Weil diese ihn und seinen Bruder stark vernachlässigt habe, sei das Jugendamt früh involviert gewesen. So kamen die Kinder schließlich in eine Pflegefamilie.

Der Traum

„Es war immer unser Traum gewesen, zu unserem Vater zu kommen.“ 2009 holte der Vater seine Kinder endlich zu sich. Er entpuppte sich aber als kontrollsüchtig und streng, unterwies die Brüder in seinem islamischen Glauben und verbot ihnen Kontakte außerhalb der Familie. Der Vater betrieb die örtliche Pizzeria und spannte seine Kinder dafür ein, sodass Karim und sein Bruder, Tarik, kaum Freizeit hatten. Daher habe Karim einmal seine Hausaufgaben in der Pizzeria erledigt. „Mein Vater ist so ausgerastet. Er hat mich mit meinem Stuhl umgeschmissen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich gar nicht in die Schule gemusst.“

Dennoch ging Karim wenig später gerne in die Berufsschule, weil er nicht gerne zu Hause war. Die Brüder lebten sich auseinander. Tarik beugte sich dem Druck des Vaters. „Er wurde von Tag zu Tag verrückter“, erzählt Karim. Während er zuvor noch Rap-Songs aufnahm und Fanpost an Bushido schrieb, hörte er nun sogar auf zu rauchen. Schließlich machte er selbst dem strenggläubigen Vater Vorschriften bezüglich seiner Lebensweise. „Auch seine Mitschüler versuchte er, im Glauben recht zu leiten“, erinnert sich Karim, als wir die Schule heute wieder aufsuchen. Sich in der Öffentlichkeit mit seinem Bruder zu zeigen, wurde ihm zunehmend unangenehm.

Im Schulalltag begegneten sich die Brüder häufig nur in der Raucherecke neben dem Schulgebäude. „Hier musste ein Mädchen mich nur umarmen, dann hat mein Vater das schon gewusst“, erinnert Karim sich heute. Schließlich hielt Karim es nicht mehr aus. „Ich hatte die größte Angst auf der Welt vor meinem Vater.“

Die Entscheidung

Auf dem Sportfest der Schule lernte Karim seine spätere Freundin kennen, die ihm Mut machte, seiner Familien den Rücken zu kehren. „Allein hätte ich mich das nie getraut. Mein Vater hat zwölf Geschwister. Das sind – rechnen wir mal jeweils nur sechs Kinder … Die haben mich nach meinem Weggang alle gehasst.“ Ein sarkastisches Lächeln huscht über sein ansonsten ausdrucksloses Gesicht.

Er vereinbarte heimlich mit einem Mitarbeiter des Jugendamts, dass er nach dem kommenden Schultag direkt zum Kinderheim laufen würde, anstatt mit dem Bruder nach Hause zu fahren. „Das ging dann alles sehr schnell“, berichtet er. Das Kinderheim war der erste Ort, an dem er sich wohlfühlte. „Die beste Entscheidung, die ich damals treffen konnte“, sagt Saleh. Zu Beginn habe er nichts mit seiner Zeit anzufangen gewusst, da er nicht von früh bis spät in der Pizzeria habe arbeiten müssen, gesteht Saleh. Vom Jugendamt wurde dieses Verhalten als Depression gedeutet.

Wenn der eigene Bruder zum Terroristen wird

Anfangs wurde Karim von seiner Familie bedroht. Daran habe er sich aber bald gewöhnt, weil er das, aufgrund all der neuen Herausforderungen, eher als nebensächlich wahrgenommen habe. Nach dem Schulabschluss hörte Karim von seiner Familie kaum noch etwas, bis es eines Tages an seiner Tür klingelte. Vor der Tür standen Beamt*innen des Landeskriminalamts (LKA) mit einem Durchsuchungsbeschluss.

Tarik sei nach Syrien ausgereist, um dort für den sogenannten Islamischen Staat (IS) zu kämpfen. Karim stünde im Verdacht, mit der Flucht des Bruders in Zusammenhang zu stehen. Dieser sei wohl Hassprediger*innen in die Arme gefallen, die ihn dazu anstiftetet hätten, in den Heiligen Krieg zu ziehen.

„Ich weiß doch genauso viel wie ihr“

Es reihten sich nun Hausdurchsuchungen und Verhöre aneinander. Auf die nicht abreißenden Fragen nach Tariks Aufenthaltsort, platzte Karim schließlich der Kragen: „Ich weiß doch genauso viel wie ihr“, habe er den Ermittler angefahren.

Einige Zeit später erhielt Karim einen Brief vom Generalbundesanwalt. Darin wurde ihm mitgeteilt, dass er über fünf Jahre abgehört worden war. „Wirklich jede Telefonnummer, die ich je hatte, war dort aufgeführt“, berichtet Karim. Später habe er seinen Freund*innen den Brief gezeigt. „Ey, so‘ n Ding habe ich auch“, habe es da nur geheißen.

Zwischen Leben und Tod

Bekannte schickten Karim immer wieder Presseberichte über seinen Bruder. „Das war ein Fluch wie ein Segen.“ Erfuhr Karim einige Zeit nichts über Tarik, schloss er mit dessen Leben ab. Immer neue Berichte konfrontierten Karim dann aber mit der Tatsache, dass sein Bruder noch lebt. 2019 erhielt Karim einen ZDF-Bericht über ein kurdisches Gefängnis für IS-Verbrecher. Er öffnet das Video auf seinem Smartphone. „Das, was ich dir eben gezeigt habe, da brauche ich normalerweise sehr lange für.“ Er steckt das Handy schnell wieder ein, als wäre etwas Bedrohliches damit verbunden.

Es wird berichtet, dass auch Tarik dort inhaftiert ist. Mit tiefsitzenden Augenringen und eingefallenen Wangen leugnet dieser dennoch seine radikalen Ansichten nicht: „Das Grundprinzip des Islamischen Staates hat gestimmt!“ Das Gefängnis, in dem sich Tarik zu dieser Zeit aufhielt, liegt in Hassakeh, Syrien. Es herrschen dort katastrophale hygienische Zustände, eine medizinische Versorgung findet nicht statt. „Du musst da Angst haben vor dem Moment, wo die Kameras wieder ausgehen“, sagt Karim trocken.

Nachdem er weitere zwei Jahre nichts mehr von Tarik gehört hatte, schlussfolgerte er erneut, sein Bruder sei tot. Wieder schloss er das Thema ab. Dann geschah das Unglaubliche: Karim bekam einen Brief seines Bruders vom Suchdienst des Roten Kreuzes. Das Rote Kreuz darf politische oder religiöse Hetze nicht übermitteln. Daher enthält der Brief eine Vielzahl an Zensuren.

Tarik fragt in seinem Brief zwar auch, wie es Karim gehe, aber kurz danach fällt er wieder in diese neuen Muster.

„Mir war es lieber, als ich nichts mehr von ihm gehört habe. Gefühlsmäßig ist das immer scheiße, wenn wieder etwas kommt.“ Gar nichts zu erfahren, wäre aber auch nicht in seinem Sinne, überlegt Karim.

Wie konnte es so weit kommen?

Es mag ihn Jahre gekostet haben, doch wenn er heute von seinem Bruder berichtet, scheint es, als sei jener Islamist im Gefängnis von Hassakeh nur ein entfernter Bekannter, wenn nicht sogar ein völlig Fremder. „Ich hatte bei dem Ganzen mal mehr Gefühle. Abgestumpft irgendwie“, gesteht Karim hilflos. „Das ist wie so ein automatisches Gefühle-Ausschalten.“

Erzählt er von seinem Bruder aus früheren Jahren, so ist das Gegenteil der Fall. „Er hat immer die Leute verprügelt, die mich geärgert haben“, Karims Lächeln wirkt ein wenig sehnsüchtig. „Mein Bruder war früher mal mein Ein und Alles.“ Dass er diesen „besten Freund“ jemals zurückbekommen könnte, glaubt er nicht. Verzeihen kann er ihm auch nicht.

Wie konnte es so weit kommen? Zwei Brüder erleben eine schwere Kindheit. Doch heute führt der eine ein geregeltes Leben, trinkt seinen Kaffee nur heiß, mit viel Milch und noch mehr Zucker. Der andere dagegen zog in den Heiligen Krieg und kann trotz Kriegsgefangenschaft von seinem fanatischen Glauben nicht ablassen.

Nach der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) forcieren zum Beispiel persönliche Schicksalsschläge die Radikalisierung junger Menschen. Salafistische Hassprediger*innen verstünden sich darauf, diese in ihren Bann zu ziehen. Das erkennt auch Saleh: „Irgendwann kamen einfach die Richtigen, die ihm das Richtige erzählt haben.“ Er macht allerdings vor allem den Vater verantwortlich. „Mein Bruder wäre Schauspieler oder Rapper geworden, aber mein Vater nahm ihm alle Chancen darauf, sich zu verwirklichen. Und dann hat er ja jeden Tag dieses Gewäsch von meinem Vater im Ohr gehabt. Der war ein Terrorist für seine eigenen Kinder.“

Früher grübelte Karim noch selbst darüber, wie es so weit kommen konnte: „Vielleicht musste er einfach zu früh erwachsen werden.“ Auch fragte er sich: „Ist es vielleicht deswegen bei ihm so geworden, weil ich ihn mit unserem Vater allein gelassen habe?“ Diese Zweifel hat er allerdings überwunden: „Heute denke ich mir: Fickt euch! Ich habe dasselbe erlebt wie er. Ich hätte genauso verrückt am Ende sein können. Aber ich habe den Entschluss gefasst: Scheiß drauf, ich haue ab!“

Das Dilemma mit Theorie und Praxis

Während sein Bruder den Sinn seines Lebens im IS gefunden zu haben scheint, sucht Karim diesen Sinn bis heute. Im Islam kann er ihn nicht finden. Dieser sei bekanntlich eine schöne Religion. Aber auch das Christentum und das Judentum seien schöne Religionen. Selbst, wenn er den Sinn nicht mehr finden sollte, so ist das für ihn nicht schlimm. Er ist zufrieden so, wie es ist.

Schlussendlich ist es eben doch so, dass wir das Leben trotz aller Theorie und Psychologie nicht vorbestimmen können. Es reicht auch aus, im entscheidenden Moment stark genug gewesen zu sein. Ironischerweise ist das auch die Erkenntnis, die Tariks Kindheitsidol Bushido in seinem Song „Theorie und Praxis“ damals im Jahr 2012 an seine Fans weltweit verbreitete.

Autorin: Lena Rapp
Bildrechte: Lena Rapp (oben), Karim Saleh (unten )

Bildbeschreibung für Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen:

Bild oben: Das Bild zeigt Karim Saleh, Protagonist des Artikels, in schwarzer Kleidung in einem weiß gestrichenen Hauseingang vor einer Tür stehend. Sein Gesicht ist verpixelt.

Bild unten: Dieses Bild zeigt den Brief, den Karim von seinem Bruder über den Suchdienst des Roten Kreuzes erhalten hat. Zu lesen ist der Text im Wortlaut mit zensierten Namen. Es geht in dem Text um persönliche Angelegenheiten. Zudem wird deutlich, dass an einigen Stellen religiöse und/oder politische Hetze durch das Rote Kreuz zensiert wurde.