Lebensgeschichten (5): Immer und nie
Die Busfahrt zu Thor Deckers Grundschule dauert eine halbe Stunde. Unterwegs dorthin reden wir über seine Bewährungsauflagen und anstehenden Gerichtsverfahren. Ein schlechtes Gesprächsthema, das gebe ich zu. Viel ist da nicht, worüber wir reden könnten.
Thor hat nicht viele Freund*innen und keinen spannenden Job. Keine Familie, von deren Alltag er berichtet, kein Projekt, das er mit Elan betreibt. Nur eines, das hat er: Jede Menge Ärger. Mit jedem und allem. Mit der Welt. Sein germanischer Vorname scheint Programm: Rückenlange rotbraune Dreadlocks, die zu einem mehr praktischen als schönen Dutt zusammengeknüllt sind, in Outdoor-Kleidung so dick eingepackt, als sei er gerade der letzten Eiszeit entronnen und mit klobigen, abgenutzten Wanderschuhen ausgerüstet, die aussehen, als wäre er tagelang durch schweres Gelände marschiert.
Thor wurde in einer Stadt im Osten Baden-Württembergs geboren, der Vater gelernter Produkt- und Mediendesigner, die Mutter hatte eine Ausbildung zur Kürschnerin begonnen. Im Kindergartenalter ließen sich seine Eltern scheiden. Thor zog mit seinem jüngeren Bruder zur Mutter, und diese zog nach Rheinland-Pfalz aufs Land.
Schwarze Pädagogik
Als Zugezogene hatten Thor und seine Familie in der konservativen Gegend von Beginn an keinen leichten Stand. Und als Sohn der einzigen Alleinerziehenden im Dorf war es Thor mit der Integration in der neuen Heimat gleich doppelt schwer gemacht.
Schlimm wurde es in der Grundschule im Nachbarort. Die meisten Klassenkamerad*innen kannten sich aus dem Kindergarten, lebten schon von Geburt an hier. Für Thor, der erst knapp ein Jahr dort lebte, war noch alles neu: Die Menschen, die Gegend, die Umgangsformen. Die Lehrer*innen gehörten größtenteils der alten Schule an. Schwarze Pädagogik stand an der Tagesordnung und auch körperliche Züchtigungen gehörten teilweise noch zum Programm.
Allein gegen so viele
Als wir heute über den Schulhof laufen, erinnert sich Thor an eine Situation in der ersten Klasse. Während der Pause hätten ihn wieder einmal viele Schüler*innen beleidigt und bedrängt. Allein gegen so viele, schlug der Erstklässler in seiner Verzweiflung mit der Sporttasche zu. Daraufhin jagten ihn die Mitschüler*innen quer über den Schulhof. Schließlich konnte er nicht mehr. Er sei stehen geblieben und habe sich seine Angreifer*innen der Reihe nach vorgenommen, berichtet er mir heute. Dann habe es geklingelt. Als der Klassenlehrer seinen Schüler*innen nach der Pause die Türe aufsperrte, erzählten ihm diese, dass Thor den Klassenlehrer beleidigt habe. Das sei der Grund für die Aggressionen ihrerseits gewesen.
Erbost von diesem Gerücht, schenkte der Lehrer Thors Erklärungsversuchen keine weitere Beachtung und zerrte ihn stattdessen zum Schulleiter. Im Ergebnis habe die alleinerziehende Mutter von Thor beim Rektor vorsprechen müssen. Thor habe eine Strafarbeit erhalten. Das Verhalten der Mitschüler*innen sei nicht nur toleriert, sondern sogar für richtig erklärt worden.
Eine Situation von so vielen, die nach dem gleichen Schema verliefen. „Meine Grundschulzeit war richtig scheiße! Ich sag es rund heraus: Die waren gehässig!“, resümiert Thor das Verhalten seiner Klassenkamerad*innen. Wie im Knast sei es gewesen. Und Thor muss es wissen.
„Urmel aus dem Eis – das war `ne coole Veranstaltung!“
Wenn er es heute auch nicht mehr direkt zugeben mag, positive Ereignisse gab es an dieser Grundschule ebenfalls. So erinnert er sich vor der Turnhalle zum Beispiel an eine Puppentheater-Aufführung von „Urmel aus dem Eis“: „Das war ‘ne coole Veranstaltung!“
Nach der vierten Klasse besuchte er die Orientierungsstufe des Gymnasiums in der nächstgelegenen Stadt. Während der Orientierungsstufe in der fünften und sechsten Klasse haben die Schüler*innen in Rheinland-Pfalz die Möglichkeit, gemeinsam mit ihren Lehrer*innen zu erproben, ob die gewählte Schulform für sie die richtige ist. Gegebenenfalls kann diese Entscheidung dann korrigiert werden.
Das Gymnasium, das Thor besuchte, war die einzige derartige Schule im Einzugsgebiet. Hätten sie sich damals für eine andere Schule entschieden, wären die Fahrtkosten vom Land nicht übernommen worden. Dadurch wäre eine andere Schule für die Familie zu teuer geworden.
Haltlos
Wie sich herausstellte, schien die Schule bei weitem nicht die beste Wahl gewesen zu sein: Von den Gymnasialschüler*innen der nächstoberen Klassenstufen erfuhr Thor schnell, dass hierher nur diejenigen Lehrer*innen abgeschoben würden, die in Rheinland-Pfalz sowieso keiner mehr einstellen wollte.
Sein Klassenlehrer war gerade viel zu sehr mit der Trennung von seiner Frau beschäftigt, die obendrein noch an Krebs erkrankt war, um sich des immer haltloseren Thors anzunehmen. Auch im Kollegium schien sich keiner dessen bewusst zu sein, was die Ignoranz dem störrischen Sechstklässler gegenüber für diesen bedeutete. „Damit sollte ich als Schüler dann was anfangen“, erklärt Thor ratlos. Stattdessen machten es sich Thors Lehrer*innen leicht und schoben ihn nach der sechsten Klasse auf eine niedrigere Schulform ab.
So wurde er aufgrund seiner fehlenden Sozialkompetenzen, nicht wegen seiner schulischen Leistungen, nach der Orientierungsstufe auf Hauptschulniveau herabgesetzt. Von nun an besuchte er eine entfernt gelegene Schule in Hessen. Kognitiv völlig unterfordert, durfte er dort schon ein Jahr später auf den schuleigenen Realschulzweig wechseln.
Von „Druckverhältnissen“ und neuen Familienmitgliedern
Während es sich für Thor in der Schule durch kleinere Klassengrößen und bessere Lehrer*innen etwas entspannte, zog zuhause ein neues Familienmitglied ein. Der neue Stiefvater, ein Musikpädagoge, hatte seine gewalttätige Ader den Kindern gegenüber von seinem eigenen Vater übernommen. „Mit dem kam ich gar nicht klar“, weiß Theo heute. Das Klima zuhause sei zunehmend von „Druckverhältnissen“, wie er es nennt, geprägt gewesen.
Eines Tages habe er sich so heftig mit seinem Bruder geprügelt, dass die Mutter dazwischen gegangen sei und ihn aus der Wohnung geworfen habe. Ab diesem Tag, 15 Jahre alt, war Thor obdachlos. Mal konnte er bei Freund*innen übernachten oder er übernachtete mit Sack und Pack auf der Straße. Das Jugendamt wäre zuständig gewesen, doch dieses hätte erst einmal jemand informieren müssen. Wie Thor damals, sind aktuell nach Angaben der Hilfsorganisation Off Road Kids mehr als 40.000 Heranwachsende von Obdachlosigkeit bedroht oder bereits auf der Straße gelandet. In Deutschland. Heute. Kein Wunder also, dass auch bei Thor niemand erschrocken aufgesprungen und ihm zu Hilfe geeilt ist.
Gleichzeitig würden es sich die meisten von uns vermutlich anders erhoffen. Zumal da der obdachlose Thor Tag für Tag mit seinen drei Rucksäcken samt Schlafsack in die Schule gekommen ist. Niemand ist auf die Idee gekommen, das Jugendamt einzuschalten, sich über Möglichkeiten für obdachlose Teenager*innen zu informieren oder Thor Hilfe und Begleitung anzubieten. Dass sich tatsächlich ernsthaft jemand für seine Situation interessieren könnte und ihm womöglich helfen wöllte, kam Thor zu diesem Zeitpunkt sowieso schon ziemlich unglaubhaft vor.
„Keinen Bock mehr“
Ein halbes Jahr obdachlos, schloss er die Schule mit der Mittleren Reife ab. Danach hatte er erstmal „keinen Bock“ mehr. Nach einem weiteren halben Jahr Obdachlosigkeit fand er kurzzeitig Platz in einer Wohngemeinschaft (WG). Viele Partys und diverse Drogenexzesse später stand er wieder auf der Straße. „Ich habe mir immer gedacht: ‚Das geht schon.‘ Ich habe mir nie wirklich Gedanken gemacht, wie was gehen soll.“
Mit 17 Jahren strich ihm der Vater frustriert den Unterhalt. Das brachte Thor endlich dazu, beim Jobcenter um Hilfe zu bitten. Wöchentlich holte er sich nun seine circa 80 Euro Hartz-IV-Wochensatz beim Amt ab. Er kam vorübergehend in diversen WGs unter, flog raus und landete wieder auf der Straße. Zuletzt konnte er eine Wohnung etwas länger halten. So lange, dass er Zeit hatte, sich vor Ort anzumelden.
Über die Jahre der Obdachlosigkeit hatten sich vor Gericht einige Vergehen gegen ihn angesammelt: Schwarzfahren, Drogenkonsum, Schlägereien. Jahrelang wurden die Verhandlungen zu den einzelnen Vergehen herausgezögert, da Thor nirgends aufgreifbar gewesen war. Nun, da er wieder eine Meldeadresse besaß, wurde alles kurzerhand zu einer Sammelklage zusammengefasst. Thor wurde zu drei Jahren auf Bewährung verurteilt.
Weil das Gerichtsurteil im Land Rheinland-Pfalz gesprochen worden war, er aber inzwischen in Hessen lebte, haperte es bei der Bewährung anfangs schon an der Kommunikation zwischen den beiden Bundesländern. Die hessische Bewährungshelferin sei von den jeweiligen Fristsetzungen viel zu spät informiert worden. Auch bei Thor meldete sich das Amt erst ein Jahr nach dem Gerichtsurteil. Schnell waren alle Fristen verstrichen und Thor landete für ein halbes Jahr im Jugendgefängnis.
Wie im Knast
Genauso hilflos und entrechtet wie in der Grundschule sei er sich vorgekommen. Früher sei er ein leichtes Opfer gewesen. Im Jugendknast habe er es dann besser gewusst. Als ihn sein Zellennachbar in der Umkleidekabine bedrohte und in den Schwitzkasten nahm, blieb Thor ruhig. In dem Wissen, dass sein Zellennachbar länger absitzen musste als er, zugleich aber ein inzwischen deutlich höheres Geltungsbedürfnis als Thor besaß, drohte er seinem Mithäftling, ihn bei den Gefängniswärter*innen anzuzeigen: „Du kackst in Einzelhaft ab. Du musst dein Leben jedem anderen in die Fresse drücken. Aber ich bin in einem halben Jahr hier raus.“ Thor hat die Welt bislang nur von einer sehr ernüchternden Perspektive aus kennenlernen dürfen: Bist du nicht stärker als die anderen, gehst du unter.
Eine Diagnose
Irgendwann sei bei ihm eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, diagnostiziert worden, eines der häufigsten Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen. Zwei bis sieben Prozent der jungen Leute sind aktuell davon betroffen. Die psychische Störung zeichnet sich, laut Fachbuch, durch einen außerordentlichen Bewegungsdrang, eine gestörte Konzentrationsfähigkeit, große Impulsivität und auch sogenanntes „oppositionelles Verhalten“ aus. Die Ursachen sind bislang noch nicht ausreichend erforscht. Fachleute mutmaßen genetische Veränderungen im Gehirn, welche unter anderem durch erbliche Anlagen und Alkohol in der Schwangerschaft hervorgerufen werden können.
Fest steht: Die Umwelt hat entscheidenden Einfluss auf den Verlauf der Störung. So können, dem „ADHS-Infoportal“ zufolge, die hierbei potentiell vorhandenen Anlagen von einigen Betroffenen auch positiv ausgelebt werden. Impulsivität ist schließlich eine wichtige Grundlage, wenn es um die Entwicklung von Kreativität und Flexibilität geht.
Thor kann dieser Diagnose für sich nicht viel abgewinnen. Vielmehr ist er der Ansicht, dass sich die Beteiligten auf diese Diagnose eingeschossen hätten, weil ihnen keine andere Erklärung für sein Verhalten eingefallen sei. Jemandem eine psychische Störung zu unterstellen, die es zu heilen gilt, um einen vermeintlichen Normalzustand wiederherzustellen, kann tatsächlich eine sehr einfache Lösung sein. Vielleicht zu einfach. In der Begegnung mit Thor stelle ich mir als Laiin allmählich die Frage, ob er hier wirklich das alleinige Problem ist, das es zu behandeln gilt.
Immer und nie
Wie auch im Fall von Menschen, die sich im Autismus-Spektrum befinden, gibt es hier zwei Seiten, denen die Anpassung aneinander schwerfällt. Wer sind wir, zu behaupten, dass die andere Seite mit ihren individuellen Charakterzügen, ihrem eigenen Blick auf die Welt, Unrecht hat? Vielleicht gibt es hier niemanden, der einer Behandlung bedarf und vielleicht benötigt unsere gesamte Gesellschaft eine Veränderung.
Thor äußert diesen Wunsch immer wieder: Mehr Verständnis, gegenseitigen Respekt! „Ich bin nicht so sehr zufrieden damit, wie es gelaufen ist.“ Könnte er sich ein anderes Leben vorstellen, würde er gerne mehr reisen, „mal aus der Ecke hier rauskommen“. „Ich habe häufiger mal den Gedanken, dass das hier in der Gegend mir eigentlich nicht so guttut!“, überlegt er. Ob es jemals einen Punkt in seinem Leben gegeben hätte, an dem sich an seiner Lebenssituation etwas entscheidend hätte ändern können – „Jederzeit und gar nicht, denn es hat sich ja nichts geändert“.
Wahrscheinlich wissen die meisten, die sich aus so einer Situation gerettet haben, von irgendjemandem, einer Person oder einer Gemeinschaft, zu berichten, die sie unterstützt haben. Für Thor gab es das bis heute nicht. Ob sich Thors Wunsch nach gegenseitigem Respekt und Anerkennung eines Tages erfüllt, wird von seiner Umwelt, von seinen Mitmenschen abhängen. Wir entscheiden, ob es dabei bleiben wird, bei immer und nie.
„Druckverhältnisse“, so beschreibt Thor sein Leben. „Under pressure“ von Queen in Zusammenarbeit mit David Bowie ist wohl der dazu passende Song.
Autorin: Lena Rapp
Bild: Symbolbild von Gabriela Palai, Stockfoto der Datenbank „Pexels“.