100 Jahre Völkermord – Gedenken in Konstanz
Die Konstanzer SPD-Gemeinderätin Zahide Sarikas ist nicht die einzige, die an den heutigen Jahrestag des Genozids an Armeniern vor 100 Jahren erinnert. Aber einzig Sarikas ruft zu einer Gedenkveranstaltung auf: Von 18 bis 19.30 Uhr in der Altkatholischen Kirche Konstanz (zwischen Münster und Theater). Und nicht nur Geistliche werden sich zu Wort melden.
Dekan Heckel wird einen Gedenkgottesdienst abhalten, Zahide Sarikas (s. Foto) über den Genozid an den Armeniern referieren und Anush Yeghiezeryan über die Bedeutung sprechen, die der 24. April 1915 noch heute für Armenier in aller Welt hat. Danach, ab 19.30, wollen die TeilnehmerInnen bei Kaffee und Kuchen noch beisammen bleiben.
Erst gestern kam es zu diplomatischen Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und Österreich, weil das Parlament in Wien am Dienstag in einer gemeinsamen Erklärung aller Fraktionen die Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren einen Völkermord genannt hatte. Auch in Deutschland wird noch heute darüber gestritten, ob man den Völkermord Völkermord nennen darf, wobei die Teilnahme deutscher Militärs an den Gräueln besonders schwer wiegt. In der Türkei wird die Nennung dieses Begriffs mit Gefängnis bestraft.
Der Völkermord an den Armeniern war einer der ersten systematischen Genozide des 20. Jahrhunderts. Er geschah während des 1. Weltkrieges unter Verantwortung der Regierung des Osmanischen Reichs. Bei Massakern und Todesmärschen, die im Wesentlichen in den Jahren 1915 und 1916 stattfanden, kamen je nach Schätzung zwischen 300 000 und mehr als 1,5 Millionen Menschen zu Tode. Der 24. April, der Tag, an dem 1915 die Deportation armenischer Eliten aus Konstantinopel (heute: Istanbul) begann, wird in Armenien als „Genozid-Gedenktag“ begangen.
Die Ereignisse, die von den Armeniern selbst mit dem Begriff Aghet – „Katastrophe“ – bezeichnet werden, sind durch umfangreiches dokumentarisches Material aus den unterschiedlichsten Quellen belegt. Weltweit erkennen die weitaus meisten Historiker diesen Völkermord daher als Tatsache an. Die Armenier sehen in ihm ein ungesühntes Unrecht und fordern seit einem Jahrhundert ein angemessenes Gedenken auch in der Türkei.
hpk (mit Material von wikipedia)[modal id=“19250″ style=button color=default size=default][/modal]
zu Jürgen
Dem ist voll und ganz zuzustimmen, die Rolle des deutschen Reiches unter Kaiser Wilhelm war beschämend und ist das bis heute noch. Um so notwendiger, dass gerade Deutschland den Genozid an den Armeniern anerkennt und damit auch die eigene Schuld und Verantwortung.
Sahide Zarikas hielt eine engagierte und mutige Rede am Freitag Abend. Es ist schade, dass dieses Gedenken in Konstanz allein im kirchlichen Rahmen statt fand, von Offiziellen der Stadt war nichts zu hören. Um so wichtiger, dass wenigstens die Kirchen, hier Farbe bekennen, allen voran der altkatholische Dekan Hermann Eugen Heckel, der auch Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Konstanz ist.
Zu ergänzen wäre Zweierlei. Zum Einen: Das deutsche Reich war tief in den Genozid an den Armeniern verstrickt. Deutschland wollte im Ersten Weltkrieg die Vorherrschaft auch im Orient und setzte im Kampf gegen das zaristische Rußland auf das Osmanische Reich als Bündnispartner. Dort herrschten seit dem Militärputsch von 1908 ein Komitee nationalistischer Offiziere und Beamter, die das Land rigide „türkisieren“ wollten. Die von diesen als Jungtürken bezeichneten Kräften beschlossene Umsiedlung der armenischen Bevölkerung entwickelte sich schnell zum Völkermord, dem mehr als 1 Million Menschen zum Opfer fielen. Die deutsche Führung, die über die Absichten der Jungtürken genau informiert war, hätte durchaus die Möglichkeit gehabt, diesen Vernichtungsfeldzug zu verhindern. Das Osmanische Reich stand praktisch unter Kuratel des Kaiserreichs, deutsche Offiziere kommandierten türkische Truppenteile. Doch in Berlin entschied man, dem Kriegsverbrechen seinen Lauf zu lassen. „Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht“ (Reichskanzler Bethmann-Hollweg 1915). Eine Gruppe deutscher Offiziere und Diplomaten beteiligte sich sogar aktiv an den Verbrechen gegen die ArmenierInnen, die sie pauschal als Kollaborateure Rußlands betrachteten. „Die Armenier werden – aus Anlass ihrer Verschwörung mit den Russen – jetzt mehr oder weniger ausgerottet, das ist hart, aber nützlich“, notierte beispielsweise der Marineattaché Humann.
Zweitens: Beim Streit um die Charakterisierung der damaligen Ereignisse handelt es sich beileibe nicht um eine abstrakt-akademische Debatte. Dass sich die Bundesrepublik bis heute weigert, den Völkermord anzuerkennen (was auch mit der heute im Bundestag verabschiedeten Resolution nicht geschieht), ist nicht nur der Rücksichtnahme auf den engen NATO-Bündnispartner Türkei geschuldet. Es geht der Regierung vor allem auch um die Wahrung eigener Interessen. Genozide verjähren nach internationalem Recht nicht, mögliche Entschädigungsforderungen könnten sich deshalb auch gegen den deutschen Staat als Rechtsnachfolger des Kaiserreichs richten. Immerhin haben deutsche Offiziere z.B. Deportationsbefehle unterzeichnet und waren auch direkt an Militäroperationen gegen ArmenierInnen beteiligt.
Außerdem weisen die damaligen Ereignisse deutliche Parallelen mit dem Vorgehen der Führung des Deutschen Reichs in der damaligen Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“ auf. In den Jahren nach 1904 hatten deutsche Truppen dort bei der Niederschlagung eines antikolonialen Aufstands im heutigen Namibia einen systematischen Vernichtungsfeldzug gegen die Einheimischen geführt, dem rund 80 Prozent der Ethnie der Herero und die Hälfte der Nama zum Opfer fielen. Zahlreiche Historiker stufen diese Gräueltaten als Genozid ein, der deutsche Staat wehrt sich mit Händen und Füßen gegen diese Bewertung. „Die brutale Niederschlagung des Aufstandes der Volksgruppen der Herero und Nama durch deutsche Kolonialtruppen“ könne „nach Auffassung der Bundesregierung … nicht als Völkermord eingestuft werden“, hieß es zuletzt 2012 in einer offiziellen Erklärung. Der Grund: Nachfahren von damaligen Opfern fordern seit Jahren Entschädigung für die kolonialen Gewaltverbrechen, wegen dieser Rechtsauffassung bislang leider vergeblich.
Jürgen Geiger