150 Jahre Sozialdemokratie in Konstanz
Die Stadt und ihre Menschen verdanken den örtlichen Sozis und besonders ihren Altvorderen so manche Errungenschaft. Deshalb gratuliert der Autor artig zum Geburtstag und bedankt sich mit einem kritischen Blick in die zum Jubiläum von der Partei veröffentlichte Festschrift. Von verpassten Chancen und wozu es die SPD heute noch braucht, soll diesmal nicht die Rede sein.
7. Mai 1873. Noch ahnt niemand, dass in zwei Tagen Wiener Bankpleiten die Wirtschaft in den „Gründerkrach“ stürzen werden. In Leipzig haben sich nach zehnwöchigem Arbeitskampf die Vereinigung der Druckereibesitzer und der Verband der Buchdrucker Deutschlands auf den ersten Flächentarifvertrag geeinigt, doch das ist der Konstanzer Zeitung – im Unterschied zu Blättern andernorts – keine Meldung wert. Im „Politischen Tagesbericht“ geht es stattdessen um die Ausgestaltung des Reichs-Invalidenfonds (Kapitaldeckung statt Umlagefinanzierung) und die Erweiterung der Genfer Konvention. Die Rubrik „Aus Stadt und Land“ bringt zu Konstanz eine Kurzmeldung über eine öffentliche Versammlung des neugegründeten sozialdemokratischen Arbeitervereins Vorwärts. Urteil: „Unsinn […] der fast nicht zum Anhören war.“
Gert Zang, Sozialdemokrat und Spiritus rector des Arbeitskreises für Regionalgeschichte, hat diese Meldung in den 1980ern ausgegraben und in einem wissenschaftlichen Beitrag über die Anfänge der Konstanzer Sozialdemokratie publiziert. Seither gilt der 6. Mai 1873 als Gründungsdatum der Konstanzer SPD. Zum 100. Geburtstag wusste man davon noch nichts und ließ das Jubiläum unbeachtet verstreichen, doch zum 125sten (1998) publizierte die Partei dann eine Neuauflage von Zangs Arbeit als Broschüre.
Nun, weitere 25 Jahre sind vergangen, feiert die Konstanzer SPD ihr 150. Jahr mit einem veritablen Buch. Auf 266 Seiten im gefälligen Quadratformat mit Fadenbindung und Hardcover-Umschlag, versammelt es üppig bebilderte Beiträge von 27 Autor:innen über die Geschichte der Konstanzer Sozialdemokratie. Respekt!
Ein Leserbrief vom „Knecht“
Der Öffentlichkeit vorgestellt wird das Werk am 6. Mai um 19 Uhr im Costa del Sol, vormals Burghof und Brauereigaststätte Buck. Ein historischer Ort an der Ecke Inselgasse/Gerichtsgasse, in dem sich einst Arbeiter zu ihren Maikundgebungen trafen und später linke Gstudierte ihre Stammtische pflegten. Doch ist der 6. Mai wirklich der richtige Geburtstag? Ein wenige Tage nach der erwähnten Notiz in der Konstanzer Zeitung veröffentlichter Leserbrief über den Verlauf der Versammlung, nun ausführlich über drei Spalten und gezeichnet mit „Knecht, Arbeiter“ (!), datiert das Treffen bereits auf den 5. Mai. Zudem wurde der Verein da nicht gegründet, sondern nur als bereits bestehend erwähnt.
Sei’s drum, wenden wir uns der Festschrift zu. Chronologisch aufgebaute Beiträge verknüpfen die Geschichte des Ortsvereins und seiner Akteur:innen von den Anfängen bis in die frühe Bundesrepublik gekonnt mit den politischen und sozialen Entwicklungen der jeweiligen Zeit. Für die jüngere Vergangenheit wechselt die Perspektive von der Außen- zur Innensicht: Jürgen Leipolds „Streifzüge durch meine Vergangenheit“, der längste und interessanteste Beitrag des Buchs, sind zugleich eine kleine Stadtgeschichte ab der Universitätsgründung (und erinnern schmerzlich daran, dass das sechsbändige Standardwerk „Geschichte der Stadt Konstanz“ dringend über die 1960er Jahre hinaus fortgeschrieben werden müsste).
Zwischen die chronologischen Beiträge eingestreut bringt die Festschrift rund zwanzig Porträts sozialdemokratischer Lokalgrößen. Hervorragend liest sich Tobias Engelsings differenzierte Biografie des Fritz Arnold, die bei aller Sympathie auch politische wie persönliche Schwächen des „roten“ Bürgermeisters Fritz Arnold aufzeigt. Uwe Brügmann stellt uns Hans Venedey vor. Der, wie sein in Konstanz wohl bekannterer Bruder Hermann von den Nazis ins Exil getrieben, brachte es nach dem Krieg in Hessen zum Innenminister – um schon nach ein paar Monaten, weil er die Abgrenzung gegenüber den Kommunisten ablehnte, geschasst und aus der SPD ausgeschlossen zu werden.
Lobhudelei und leere Freiflächen
Manche Porträts sind jedoch mit gerade nur zehn Zeilen allzu kurz. Andere bleiben als pure Lobhudelei belanglos; oder sie widmen sich noch lebenden Granden des Ortsvereins, deren Wirken für die Stadtgeschichte dem Außenstehenden allenfalls als Fußnote erscheint. Der frühere Baubürgermeister Ralf Joachim Fischer (Untertitel: „Ein Neuerer zur rechten Zeit“) hätte statt einer Aufzählung seiner städtebaulichen Taten eine kritische Auseinandersetzung mit eben diesen verdient gehabt, verdanken wir ihm doch beispielsweise nicht nur autofreie, sondern bewusst auch leere, unbegrünte Freiflächen: Benediktinerplatz oder Markstätte als trostlose Verwandte der italienischen Piazza.
Enttäuschend auch der Querschnittsbeitrag „Frauen bewegen die SPD“. Die Autorin spannt den Bogen von der Französischen Revolution bis zur langjährigen Konstanzer Frauenbeauftragten (1987–2019) Christa Albrecht – und scheitert zwangsläufig bei dem Versuch, neben der Konstanzer Frauenbewegung auch gleich noch die überregionale Geschichte der Frauenemanzipation abzuhandeln. Die Herausgeber hätten besser daran getan, den Autor:innen der Beiträge zur Geschichte des Ortsvereins abzuverlangen, mehr auf den politischen Anteil der Frauen einzugehen. Oder, wenn schon ein extra Frauenkapitel, dann der Autorin wenigstens ein besseres Lektorat zu gönnen, das schon bei der thematischen Konzeption des Artikels beratend eingreift.
Bleibt noch der Titel. Mit „150 Jahre Sozialdemokratie in Konstanz“, glaubte man wohl (und nicht ganz unbegründet), nur wenige Leser:innen ansprechen zu können. So wurde das Thema der Festschrift in den Untertitel verbannt und ihm ein „Schmuggler, Schmugglerinnen, Nachfahren“ als Titel vorangestellt. Falsch ist das nicht, denn wir alle sind ja irgendwie Nachfahren. Und ja, der Schmuggel verbotener Schriften und verfolgter Menschen gehört zu den spannenderen und heldenhaften Taten der Konstanzer Genossen und Genossinnen. Darüber mag er zum Kauf des Buchs verleiten – und so quasi im Vorbeigehen die Geschichte der Konstanzer SPD und ihr Wirken in der Stadtpolitik näherzubringen.
Text: Ralph-Raymond Braun / Foto (es zeigt die Herausgeber): SPD Konstanz