„Die deutsche Regierung könnte viel zum Frieden beitragen“
Die jungen Demonstranten warteten vor der Tür, die Zuhörer gelangten nur durch ein Spalier handgemalter Plakate ins Konstanzer Hotel Barbarossa. Sich an der später intensiven Diskussion beteiligen mochten sich die Jugendlichen nicht, und ihre Gesichter wollten sie weder fotografiert noch veröffentlicht sehen – ungewöhnlich zumindest für Demonstranten, die die Öffentlichkeit ansonsten nicht scheuen. Dem spannenden Vortrag und der hochpolitischen Aussprache schadete das nicht | Gemeinsam mit Annette Groth begingen die Friedensinitiative Konstanz, die VVN Konstanz-Singen, die Gewerkschaft ver.di und die Linke.Konstanz den Antikriegstag, 1. September 2010. Die Bundestagsabgeordnete der Linksfraktion berichtete unter dem Titel „Free Gaza“ über ihre Erlebnisse bei der gewaltsamen Verhinderung des Schiffskonvois nach Gaza durch die israelische Regierung. Groth war als Unterstützerin des Hilfskonvois an Bord des Schiffes „Marvi Marmara“. |
Im Vorfeld versammelte sich jedoch eine Gruppe von etwa 10 Autonomen, die vor dem Veranstaltungsort Hotel Barbarossa zum Boykott der Veranstaltung aufrief. Grund: Annette Groth sowie ihren BegleiterInnen Inge Höger und Norman Paech wird vorgeworfen, durch die Begleitung des Konvois ein Bündnis mit der Internationalen Humanitären Hilfsorganisation (IHH) eingegangen zu sein. Der mittlerweile in Deutschland verbotenen Organisation IHH wird indirekte Unterstützung der Hamas vorgeworfen, weswegen linke, türkische Gruppen die Begleitung des Konvois ablehnten. Die VeranstalterInnen des gestrigen Abends boten den überwiegend jungen Menschen an, im Veranstaltungsaal die Diskussion zu suchen, um etwaige Schritte der Abgeordneten nachvollziehen zu können. Dieses Angebot wurde hartnäckig ausgeschlagen.
Zu Beginn ihres Berichts über die Begleitung des Konvois meinte Annette Groth, sie habe eine solch starke Gegendemonstration zu ihren bisherigen „Free Gaza“-Veranstaltungen noch nicht erlebt. Ihrer Kollegin Inge Höger sei das allerdings schon in Leipzig passiert. So stark, dass die Polizei habe einschreiten müssen.
„Das fand in der Presse kaum Beachtung“
„Auf den Tag genau drei Monate sind es heute her, dass wir nach Deutschland zurückgeflogen sind“, erzählt Groth: „Ich bin mit auf das Schiff gegangen, weil ich mit Pax Christi zusammengearbeitet habe. Sie sagten mir, dass sie Hilfsgüter nach Gaza bringen wollten und sie noch prominente Vertreter suchten, um die Schiffe zu begleiten.“ Groth betonte, dass zuvor bereits fünf Schiffe nach Gaza durchgedrungen seien: „Das fand in der internationalen Presse allerdings wenig Beachtung. Die letzten zwei Schiffe wurden jedoch beschossen. Bevor ich auf das Schiff ging, unterhielt ich mich mit zwei US-Amerikanerinnen. Sie sagten mir, sie seien damals von der israelischen Armee aufgegriffen worden und ins Gefängnis gekommen“.
Die fünfköpfige Gruppe aus Deutschland, der sich Groth anschloss, gehörten neben ihr die Bundestagsabgeordneten Norman Paech und Inge Höger an sowie der Arzt Matthias Jochheim und Nadar el-Sakka von der palestinensischen Gemeinde Deutschland. Die Gruppe hatte ein Credo: „Egal was passiert, wir bleiben zusammen.“ Nachdem Matthias Jochheim allerdings als einziger der fünf an Bord der Marvi Marmara gegangen war und es technische Probleme an Bord der unter US-amerikanischer Flagge fahrenden Schiffe Challanger 1 und 2 gab, entschied sich die Gruppe, dem Arzt auf die Marvi Marmara zu folgen.
„1 ¾ Stunden durften wir nicht zu den Verletzten“
„Gegen 4:20 Uhr Morgens erhielten wir unter Deck die Nachricht, das Schiff sei von der israelischen Armee umringt. Um 5 Uhr wurde dann mitgeteilt, dass die israelische Armee das Schiff übernommen habe. Wir wurden an Deck geholt und die Leute wurden gefesselt. Teils wurde ihnen der Gang auf die Toilette verwehrt, die meisten Männer mussten fast zwei Stunden lang knien. Das hat mich an Guantanamo erinnert. Die Verwundeten wurden kopfüber ins Unterdeck transportiert. Solche Behandlung kann tödlich sein kann. Hinterher habe ich mit einer britischen Krankenschwester unter Deck an einem Tisch gesessen: „Wir durften 1 ¾ Stunden nicht zu den Gefangenen“. In dieser Zeit sind mindestens zwei der Verletzten verblutet. Später berichtete mir unsere Koordinatorin – ein palästinensische Israelin – dass einer der Soldaten ihr gesagt habe „Leute wie ihr gehören alle ins Meer geworfen“.
Mit dem Vorwurf, Passagiere an Bord der Marvi Marmara seien bewaffnet gewesen, räumt Annette Groth auf: „Wir haben alle unterschrieben, dass wir keine Waffen und keinen Alkohol mit an Bord bringen. Die israelische Armee hat nichts gefunden, sie hatten Spürhunde dabei. Später kam man ganz triumphierend mit Küchenmessern und Werkzeugkästen an und hat versucht, diese als Waffenfund hinzustellen. Bei Übernahme des Schiffes wurden drei israelische Soldaten entwaffnet. Die Gewehre wurden allerdings nicht gegen sie verwendet, sondern ins Meer geworfen. Die Stangen, mit denen sich die Leute an Deck zur Wehr setzten, stammten von einem Pavillon, der als Sonnenschutz diente.“
„Gefangene wurden verprügelt“
Angekommen in Israel konnte Annette Groth nach einigem Wirrwarr mit der Deutschen Botschaft telefonieren. Noch um 2:30 Uhr nachts flogen sie und ihre vier Begleiter zurück nach Deutschland. „Anderen ging es da wesentlich schlechter. Sie waren noch eine Zeit lang inhaftiert. Palästinensische Israelis wurden teilweise verprügelt, aber auch zwei Iren. Letzte Woche war ich in Genf. Einige Soldaten der Israelischen Armee wurden im Schnellverfahren bereits verurteilt wegen dem Verkauf von Laptops, die sie sich von den Gefangenen zu Eigen gemacht hatten“, erzählt sie.
Doch von der völkerrechtswidrigen Militärintervention lassen sich die Hilfsorganisationen nicht abschrecken. Eine Kollegin berichtete Groth, dass die nächsten Schiffe für die nächsten Hilfsaktionen schon gekauft seien. Eines davon wolle man ausschließlich mit europäischen Abgeordneten besetzen, eines nur mit Jüdinnen und Juden, um zu sehen, ob man unbehelligt nach Gaza kommt. Ob Groth mitfahre, wollte sie noch nicht sagen.
Ein Teilnehmer wollte in der anschließenden Diskussionsrunde wissen, wie es zur Schießerei kam. Groth antwortete, sie sei bei der Schießerei unter Deck gewesen, allerdings seien die Obduktionsberichte zu dem Ergebnis gekommen, dass jene Soldaten, die sich vom Hubschrauber aus abgeseilt haben, bereits aus der Luft geschossen hätten. Ein 19-jähriger Passagier wurde aus nächster Nähe erschossen.
„Die deutsche Regierung könnte zum Frieden beitragen“
Außerdem erinnerte ein weiterer Besucher an den eigentlichen Sinn des Antikriegstags: Ein Appell an den Frieden. Wie soll es im Nahen Osten also zu Frieden kommen? Groth: „Die deutsche Regierung könnte eine Menge zum Frieden im Nahen Osten beitragen. Nur sie bricht ständig ihre eigenen Gesetze, indem sie Waffen in dieses Krisengebiet schickt. Wenige Menschen wissen, dass demnächst Bundeswehrsoldaten nach Israel geschickt werden, um für den Auslandseinsatz ausgebildet zu werden. Stattdessen sollte man ganze Armadas von Psychologen in die Region schicken, um die Leute von ihren Kriegstrauma zu heilen.“
Ein anderer Teilnehmer merkte kritisch an: „Ich will nicht als Antisemit dastehen. Ich kann sehr wohl zwischen einem Volk und der Politik ihrer Regierung unterscheiden. Ich will außerdem keinesfalls das Existenzrecht Israels in Frage stellen. Aber ich weiß nicht, ob eine Zwei-Staaten-Lösung unbedingt die beste ist. Frieden kann es schließlich nur geben, wenn verschiedene Menschen und Volksgruppen friedlich miteinander leben.“
Autor Ryk Fechner