27 von 47 000 Stolpersteinen

20140629-233711-85031726.jpg19 Stolpersteine für Konstanz, acht Stolpersteine für Radolfzell. Radolfzell ist die 957. Stadt, in der Stolpersteine verlegt wurden. Europaweit sind es über 47 000. Rund um das Erinnerungsprojekt Stolpersteine finden unter breiter bürgerlicher Anteilnahme Begegnungen statt. In Radolfzell z.B. befasst sich eine Initiative mit der NS Geschichte der SS-Kaserne

Prickelnd, bewegend und mitreißend geschieht und entwickelt sich das, was Gunter Demnig mit den Stolpersteinverlegungen erreicht. Mit Herz und Kopf sich verbeugen vor den Menschen, die in der brutalen Zeit des Faschismus ihr Leben, ihre Freiheit, ihre soziale Umgebung verloren. Sich verneigen vor denen, die trotzdem halfen, den Schrecken der SS, Gestapo, Kriegslogik eines Führerkults, zu entfliehen und dabei ihr Leben riskierten.Wehmut und Anklage mit den hilflosen Opfern der Euthanasie und geächteten, missachteten Homosexuellen, den verfolgten Zeugen Jehovas, den dem Holocaust preisgegebenen Jüdinnen und Juden, den ausgegrenzten Sinti und Roma, den aufrechten politisch andersdenkenden Kommunisten, Sozialdemokraten, Liberalen und Anarchisten, den pazifistischen Christen.

Am 27. Juni empfing die Stadt Konstanz im Ratssaal Angehörige der bedachten NS-Opfer zusammen mit Paten und Engagierten der Stolperstein-Initiative Konstanz. Andreas Osner – Sozial-Bürgermeister – sprach von der Verantwortung der jetzigen Generation, sich mit den Gräueln des Nationalsozialismus und der Kriegstreiberei auseinander zusetzen. Er verlas alle 19 Kurzbiografien, die im Programmflyer der Konstanzer Initiative nachzulesen sind.

Stolperstein für die Synagoge

Um 13 Uhr wurde von Gunter Demnig ein Stolperstein für die 1938 zerstörte Synagoge in der Sigismundstraße verlegt. SchülerInnen des Ellenrieder und Suso-Gymnasiums lasen aus Briefen von Beate Bravmann, der Tochter des vorletzten Kantors der Synagoge.

Für die beiden jüdischen Glaubensgemeinschaften – die egalitäre Jüdische Chawurah Gescher Gemeinschaft und die israelitische Kultusgemeinde Konstanz – sprachen Ruth Frenk und Benjamin Nissenbaum. Ruth Frenk ermunterte die Jugendlichen aus Konstanz, an einer aktiven interreligiösen Zukunft mitzuarbeiten, Benjamin Nissenbaum, der die jetzige kleine Synagoge in seinem Haus sorgsam eingerichtet hat, wünscht sich einen baldigen Baubeginn für die neue Synagoge.

Opfer der Euthanasie

Wilma Haisch, geboren 1879, hatte 22 Geschwister. Die Eltern besaßen eine Zigarrenfabrik in Heidenheim, In Konstanz erbauten sie ein markantes Geschäftshaus aus Backsteinen in der Kanzleistraße; im Erdgeschoß betrieben sie eine Tabakwarenhandlung. Wilma wurde nach der Schulzeit auf eine standesgemäße Hochzeit vorbereitet, indem sie zuerst ein Pensionat besuchte und danach in einem evangelischen Pfarrhaus wohnte. „In dieser Zeit erkrankte sie psychisch und wurde aufgrund einer unglücklichen Beziehung zu einem verheirateten Mann und einer Fehlgeburt schwermütig.“ Als die gebrechlichen Eltern ihr nicht mehr zuhause beistehen konnten, wurde sie in die Psychiatrische Klinik Reichenau verlegt.

Roland Didra verwies nach dieser Stolpersteinverlegung auf weitere Euthanasie-Opfer, die zuletzt in der Konzilstraße wohnten. So liegen hier Stolpersteine für Karl Huber und Emma Wippler. Emma Wippler wurde am 27.6.1940, also vor genau 74 Jahren, in Grafeneck durch Giftgas ermordet.

Erstmals ein Stolperstein für einen Homosexuellen

In der Rheingutstraße 34 wurde ein Stolperstein für Josef Geiger – ein homosexuelles Opfer – verlegt. Die Recherche zu Josef Geiger leistete William Schaefer, der seit ca. 20 Jahren über die Schicksale homosexueller Opfer nachforscht. Josef Geiger, 1877 in Frickingen geboren, hatte bis 1933 aufgrund seiner Homosexualität (Paragraph 175) bereits 12 Jahre hinter Gitter verbracht. Am 2.12.1936 wurde er wieder zu eineinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt mit anschließender Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt.1939 wurde er als krimineller Geisteskranker eingestuft. Am 7.5.1940 wurde er in Grafeneck vergast.

Lange Opferzeit der Kommunisten

In der Konradigasse 3 wurden zwei Stolpersteine für das Ehepaar Wilhelm und Rosa Artz verlegt (s.,Foto). Wilhelm und Rosa, beide Jahrgang 1880, wurden am 26.5.1936 verhaftet, weil sie im Ausflugslokal St. Katharinen nazifeindliche Flugblätter verteilt hatten. Wilhelm – Mitglied der KPD und Roten Hilfe seit 1919 – wurde zu 2 Jahren Zuchthaus verurteilt. Er starb am 5.4.1943 an den schweren gesundheitlichen Schäden der Haft. Rosa – Mitglied der KPD und Roten Hilfe seit 1923 – 3 Kinder aus erster Ehe und 1 Kind mit Wilhelm – wurde zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt. Sie starb am 1.12.1956 in Konstanz. Rosa war auch nach Ende des 2. Weltkrieges politisch aktiv. Sie kandidierte nach Aussagen von Vera Hemm in den Jahren 1946 und 1948 für den Bürgerausschuß und 1953 für den Gemeinderat der Stadt Konstanz.

Die ersten Stolpersteine für Sinti

In der Max-Stromeyer Straße 106 wurden zwei Steine für Georg Reinhardt (Sinto) und Anna Maria LeDantec (Sintezza) verlegt. Georg Reinhard, 1910 geboren – von Beruf Musiker, nach Adressbuch jedoch Pferdepfleger, wurde im April 1940 zusammen mit seiner Familie- 6 Kinder – verhaftet und sollte nach Polen deportiert werden. Sie wurden jedoch bereits am 22. Mai 1940 entlassen, weil die Ehefrau Arierin war. Er erhielt Berufsverbot. Im Sommer 1944 wurden er und seine älteste Tochter zwangssterilisiert. Georg Reinhardt verstarb 1987 im städtischen Altersheim Luisenstraße. Seine älteste Tochter Anna-Maria, geboren 1927, heiratete nach dem Krieg einen französischen Artisten. Später heiratete sie einen Dänen, ohne dessen Namen anzunehmen. Sie verstarb 2005 in Konstanz.

Angehörige der Familie Reinhard waren bei der Stolpersteinverlegung anwesend und zeigten sich sehr erfreut über die Anteilnahme am Schicksal der misshandelten Familie. Sie sagten, sie seien froh, dass die Gesellschaft heute freier geworden sei und eine Sippenhaft gegen Sintis heutzutage nicht mehr stattfinden würde. Aber auf die letzten Vorkommnisse in Konstanz in der Steinstraße angesprochen – eine Roma-Familie mit vier Kindern, die nur einen Duldungsstatus hatte, wurde mitten in der Nacht nach Mazedonien abgeschoben – wurden sie schweigsam und betroffen.

Acht Stolpersteine in Radolfzell

Alfred Heim von der Stolperstein-Initiative Radolfzell hatte zur ersten Stolpersteinverlegung eingeladen. Zu den Vertretern der Stadt, insbesondere Bürgermeisterin Monika Laule, Landtagsabeordneter Siegfried Lehmann, engagierten LehrerInnen der Tegginger Grund- und Hauptschule Radolfzell, kamen auch Freunde und Aktive aus Singen und Konstanz und Umgebung. Alfred Heim dankte ausdrücklich Hendrik Riemer für dessen methodische Hilfestellungen zu den Recherchen.

Am Seetorplatz 2 wurde neben dem Gedenkstein (2004) für die am 22.10.1940 nach Gurs deportierten jüdischen Mitbewohnern ein Stolperstein für Alice Fleischel verlegt. Bei der zweiten Station, Steinverlegung für Ernst Gnierß, spielten Schülerinnen der Teggingerschule ein Rollenspiel um die Umstände der Verhaftung von Ernst Gnierß durch die Gestapo. Die Jugendlichen spielten die Nöte – schlechte Entlohnung für Fabrikarbeiter in den dreißiger Jahren und die offene Denuntation durch verblendete Kollegen in einem beeindruckenden Straßentheater.[modal id=“19250″ style=button color=default size=default][/modal]

Autor: Dietmar Messmer