„5 vor 12“ – aber Singens Karstadt-MitarbeiterInnen geben nicht auf

5 vor 12 – diese Uhrzeit war nicht zufällig gewählt, sondern Programm – hatten sich am vergangenen Freitag mehr als 200 Bürger­In­nen an der Großbaustelle vor dem Singener Karstadt-Gebäude zusammengefunden. Trotz gewittrig-schwülem und leicht regnerischem Wetter waren sie der Einladung des Betriebs­rates von Galeria Karstadt/Kaufhof und der zuständigen Gewerkschaft ver.di zur Protest­kundgebung gegen die eine Woche zuvor angekündigte Schließung der hiesigen Filiale Ende Oktober gefolgt.

„Es ist 5 vor 12 – aber wir geben nicht auf, wir kommen, um zu bleiben“, mit diesem Motto der Kundgebung begrüßte Markus Klemt, Bezirkssekretär von ver.di Schwarzwald-Bodensee die Versammelten und sicherte den 124 Singener Karstadt-MitarbeiterInnen jede erdenkliche Unterstützung zu, in ihrem Kampf, das drohende Aus doch noch abzuwenden. Schon vor Beginn der Veranstaltung herrschte reges Gedränge, zahlreiche UnterstützerInnen und KundInnen von Karstadt äußerten ihr Entsetzen sowie Unverständnis über die Entscheidung und leisteten Unterschriften, die der Konzernleitung übergeben werden sollen. 2.000 waren in wenigen Tagen schon zusammengekommen.

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Unverständnis über die Schließung einer Filiale, die seit Jahren schwarze Zahlen schreibe – trotz aller konzerninternen Krisen, die Karstadt in den vergangenen Jahren gebeutelt haben, trotz übermächtiger Konkurrenz einflussreicher Online-Anbieter wie Amazon, Zalando und Otto, trotz der nun drei Jahre andauernden Cano- und Bahnhofsvorplatz-Großbaustellen rund ums Gebäude und trotz der Corona-Pandemie.

Profitabel, aber nicht mehr wirklich konkurrenzfähig

„Seit Freitag letzter Woche hat sich für uns die Welt verändert. Wir sind traurig, frustriert und wütend“, beschrieb Karin Greuther, Betriebsratsvorsitzende von Karstadt Singen, die Stimmung in der Belegschaft. Das Haus sei zwar profitabel, aber nicht mehr richtig konkurrenzfähig, so habe die Konzernleitung die Schließung begründet. „Man hat uns vorgeworfen, dass die Umsätze in letzter Zeit nicht mehr so kamen.“ Die Betriebsratsvorsitzende war Anfang letzter Woche zusammen mit Filialleiterin Sabrina Stark und deren Stellvertreter Enrico Mohr in Köln zu einem Gespräch mit dem neuen Karstadt-CFO, Miguel Müllenbach gewesen. Man sei nochmals alle Zahlen durchgegangen, habe die Situation in Singen dargelegt und hoffe nun auf ein positives Signal – das bislang aber noch aussteht. Doch noch haben sie und ihre KollegInnen nicht aufgegeben: „Wir sind stark, wir sind eine Familie und kämpfen gemeinsam“. Wer sie unterstützen möchte, solle an den Konzernsitz nach Essen schreiben, forderte sie die Anwesenden auf. Auch Solidaritätsunterschriften werden weiter gesammelt. Abschließend bedankte sie sich ausdrücklich bei ihrem Nachredner, Oberbürgermeister Bernd Häusler, der die Bemühungen der hiesigen Belegschaft um den Erhalt des Hauses seit Wochen engagiert unterstütze.

Karstadt als Motor und Leuchtturm ins Umland

Und auch der Oberbürgermeister zeigte sich emotional kämpferisch, was mit langanhaltendem Beifall quittiert wurde: „Seit 46 Jahren ist Karstadt in unserer Stadt der Motor, der Leuchtturm in die Region hinaus.“ Ihm sei nicht klar, warum man dieses Haus –  in einer 1AA-Lage schließen und damit einen Standort an der Schweizer Grenze aufgeben möchte. Nahe liege aber die Vermutung, dass jetzt im Insolvenzverfahren mit Sonderkündigungsrecht die Schließung eben preisgünstig zu haben sei: Von Karstadt habe er die Auskunft erhalten, man könne auch noch zwei oder drei Jahre weitermachen, aber wenn man dann schließe, werde es viel teurer. Dass die Großbaustellen rund um das Gebäude (Cano-Shoppingmall, neuer Belag in der Hegau- und August-Ruf-Straße, Umbau des gesamten Bahnhofsvorplatzes) zu einem leichten Umsatzrückgang geführt haben, sei für ihn logisch, denn die Innenstadt werde ja „für Karstadt, fürs Cano und andere Geschäfte“ umgebaut. Dass aber dennoch schwarze Zahlen geschrieben wurden, beweise doch, dass es „ganz so schlecht nicht sein kann“. Und: ECE komme nach Singen, nicht weil es so eine schöne Stadt sei, sondern weil man hier Geld verdienen könne, und er habe immer gedacht, dass auch Karstadt das wolle. Zehn Meter neben der zu Jahresende eröffnenden Cano-Mall gelegen, befinde sich das Haus im zukünftigen Mittelpunkt des Handels. Und die Schweizer würden ja wiederkommen – mit einer Kaufkraft „von der die Deutschen nur träumen könnten“, nämlich der doppelten … Bemühungen um den Erhalt des Standortes gibt es laut Häusler auch seitens der Eigentümer des Gebäudes, das vor 46 Jahren nicht von Heuschrecken, sondern von Bürgern aus der Stadt errichtet worden sei. Die jetzigen Eigentümer seien Karstadt schon mit der Miete entgegengekommen und wollten nun nochmals ein neues Angebot abgeben.

Unterstützungsversprechen von Kirche, Gewerkschaft und Politik

Heike Gotzmann, die katholische Bezirks-Arbeitnehmerseelsorgerin versicherte der Karstadt-Belegschaft ihrer Wertschätzung und Anerkennung für all die geleistete Arbeit. Als Symbol des kirchlichen Beistands überreichte sie Karin Greuther einen (tags zuvor bei Karstadt gekauften Regen-) „Schutzschirm“. Auch Reiner Geis, Bezirksgeschäftsführer von ver.di Südbaden/Schwarzwald betonte, dass die angekündigte Schließung eine Unverschämtheit sei und nichts mit Wertschätzung zu tun habe. Er stellte die Ankerfunktion von Kaufhäusern wie Karstadt und Kaufhof für den Erhalt lebendiger Innenstädte in den Fokus.

Zudem hofft man auch auf die Unterstützung der Bundesregierung: Rita Schwarzelühr-Sutter, Parlamentarische Staatssekretärin und SPD-Bundestagsabgeordnete, hatte sich vor der Protestaktion mit den Karstadt-MitarbeiterInnen, Gewerkschaftsvertretern und SPD-KommunalpolitikerInnen getroffen. Laut ihrem Statement – vorgetragen von Gemeinderatsmitglied Hans-Peter Storz – werde auch sie von der Konzernleitung eine Erklärung fordern, weshalb diese Filiale geschlossen werden solle. Als ein „Schlag ins Gesicht für die MitarbeiterInnen und ihre Familien“ kritisiert sie diese Entscheidung. Nicht nur der „vorgeschobene Online-Handel oder die Corona-Pandemie, sondern jahrelanges Missmanagement und fehlende Zukunftskonzepte auf höchster Ebene“ hätten mit zur jetzigen Misere beigetragen. Sie wolle das Beste für die bei Galeria Karstadt/Kaufhof Beschäftigten erreichen. Boni und Abfindungen für die für das Missmanagement Verantwortlichen solle es hingegen nach ihrer Ansicht keine geben – versprach die Abgeordnete.

Die wahren Karstadt-RetterInnen

Eine kurze Chronologie der langen Reihe von „Karstadt-Krisen“ unter oft wechselnden Eigentümern und Managern fasste Markus Klemt zusammen. Seit gut zwei Jahrzehnten führe die Kaufhaus-Kette ihren Kampf gegen die Konkurrenz im Internet. Laut dem nun im „Schutzschirmverfahren“ (Insolvenz in Eigenverwaltung) bestellten generalbevollmächtigten Sanierer Arndt Geiwitz (der auch schon die Schlecker-Insolvenz abgewickelt hat) haben die Karstadt-Beschäftigten (bis zum Zeitpunkt der Fusion mit Galeria Kaufhof im vergangenen Jahr) bundesweit auf über 100 Millionen Euro an Löhnen und Gehältern verzichtet, um Karstadt zu erhalten und entsprechende Sanierungen und Modernisierungen zu ermöglichen. Daher seien, so Klemt, die MitarbeiterInnen die wahren Karstadt-RetterInnen, aber dies „werden die Kollegen und Kolleginnen eines Tages bei der Rente bitter bereuen.“

Der letzte Sanierungstarifvertrag wurde Ende 2019 abgeschlossen und soll bis 2025 gelten: Auch dieser beinhaltet u.a. weiteren Verzicht auf Sonderzahlungen, Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Und dennoch, so Klemt weiter, habe man noch Anfang 2020 geglaubt, dass es jetzt vorangehe, aber dann sei Corona gekommen. Der durch die Pandemie verursachte Umsatzverlust betrage 600 bis 700 Millionen Euro und werde bis Jahresende womöglich auf 1 bis 1,3 Milliarden steigen. Karstadts Antrag auf die Mitte März versprochenen Bundeskredite scheiterte, da die kreditgebenden Banken mit 10 Prozent der Gesamtsumme bürgen müssen. Da sich dafür – aufgrund der ohnehin prekären Finanzlage des Konzerns – bislang kein Bankenkonsortium bereitgefunden habe, beantragte die Unternehmensspitze Mitte Mai die Insolvenz in Eigenverwaltung. Mit mehr Initiative seitens Konzernführung und Insolvenzverwalter müsste hier aber – laut dem Gewerkschaftsmann – mehr möglich sein, denn: kämen die Kredite, müssten nicht 62 von 170 Häusern geschlossen werden.

Protestkundgebungen auch andernorts

fanden zur selben Uhrzeit wie in Singen statt: So am Leopoldsplatz in Berlin, wo sechs von elf Galeria Karstadt-Kaufhof-Häuser in der Bundeshauptstadt geschlossen werden sollen. Und im württembergischen Leonberg, wo Karstadt ebenso wie in Singen schwarze Zahlen schreibe. Dazu ein beachtenswertes Detail: In Leonberg ist ECE der Vermieter – und der Hamburger Immobilienunternehmer (und Cano-Investor) verhandelt derzeit mit Karstadt über die jeweiligen Miethöhen und den eventuellen Erhalt der Karstadt-Filialen in seinen Shoppingmalls (siehe auch hier). Auch die KollegInnen der anderen 61 auf der Schließungs-Liste stehenden Häuser hoffen auf Rettung und Erhalt ihres Arbeitsplatzes. Und auch aus Sicht von ver.di ist hier noch nichts endgültig und einige Erfolge gegenüber den ursprünglichen Sanierungsplänen habe man immerhin erreicht: Statt der anfangs genannten 80 sollen jetzt „nur“ 62 Filialen geschlossen werden. Dass das Warenverräumungsteam ausgelagert werde, habe man verhindern können, ebenso die geplanten Entlassungen von 10 Prozent der Belegschaft in den noch verbleibenden Warenhäusern. Und selbst wenn das Schlimmste – also die Schließung – komme, sei eine Transfergesellschaft (die seinerzeit Ursula von der Leyen als zuständige Ministerin den Schlecker-Angestellten verweigert habe) schon zugesichert. Doch die Zeit drängt: Bis 5. Juli werden Fakten geschaffen und danach im Falle einer Schließung über die Gründung der Transfergesellschaft bis Mitte Juli entschieden werden müssen. Die Kündigungen könnten höchstwahrscheinlich schon in den nächsten Tagen verschickt werden, warnte Klemt.

„Zukunft statt Kahlschlag“

war auf einem Transparent zu lesen, direkt am Zaun des kurz vor der Fertigstellung stehenden Cano-Baus – gerichtet allerdings ans Karstadt-Management, und nicht an die Otto-Group mit ihrem ECE-Immobilienunternehmen. Unbestritten auch, dass die Gründe für die finanzielle Schieflage der gesamten Warenhausgruppe multifaktoriell sind. Und trotz aller intensiven Bemühungen, Solidaritäts- und Wertschätzungsbekundungen und der Kritik an den für diesen Standort als unverständlich bezeichneten Schließungsplänen mag von außen eine andere Sicht ausschlaggebend sein: Gerade die Lage – egal ob 1AA-Lage und derzeitige Schweizer Kaufkraft, aber mit der erdrückenden Nachbarschaft  des Cano nur 10 Meter gegenüber – könnte auch das Zünglein an der Waage dafür sein, dass bis dato die Sanierer den Daumen nach unten halten. Die gigantische Konkurrenz nebenan mit ihren 85 Shops könnte auch als Bedrohung und nicht als „Belebung“ des eigenen Geschäfts eingestuft werden.

Ruft man sich die Zeit der Diskussion und des Wahlkampfes zum Bürgerentscheid pro oder contra dieses Konsumtempels in Erinnerung, so waren zu Karstadt viele garstige Worte zu hören: Von wegen Traditionshaus oder gar „Leuchtturm“, hässlich und in die Jahre gekommen sei das Gebäude, altbacken und dröge das Warensortiment, Kaufhäuser dieser Art nicht mehr zeitgemäß … und Karstadt habe gar keinen Grund, sich gegen das neue Center zu wehren, denn schließlich hätten seinetwegen damals (1974) auch viele ältere und kleine Singener Geschäfte aufgeben müssen. Ein Singen ohne Karstadt, für ECE-Fans kein Problem, – so könne man aus dem leerstehenden Gebäude ein Parkhaus fürs Cano machen, wurde aus ihren Reihen gar gelästert. Die mehrheitliche Entscheidung des Singener Gemeinderats und der Stadtspitze sind bekannt, auch die BürgerInnen haben für die Riesen-Mall votiert – trotz aller Warnungen seitens der Center-Kritiker vor einem möglichen Ladensterben. Und mit zu den lautstärksten BejublerInnen der ECE-Projektierer gehört(e) die SPD-Fraktion. Immerhin steht sie jetzt – wie auch der OB – aktiv an der Seite des verzweifelten Karstadt-Teams. Eine Schließung des „Kaufhauses“ genau zu dem Zeitpunkt, zu dem die nun mehr als vier Jahre lang viel gepriesene und hoch gelobte Shoppingmall eröffnen soll, könnte der schönen Selbstdarstellung der Center-Befürworter als Förderer der gesamten Innenstadt etwas von ihrem sorgfältig poliertem Glanz nehmen: Ein solches Aus und der daraus resultierende Leerstand könnte sie leicht als Förderer eines Verdrängungswettbewerbs oder gar als Totengräber-Gehilfen erscheinen lassen, was diese sicher gern vermeiden wollen …

Die Gefahr war bekannt, gewarnt wurde von vielen Seiten: Einzelhandel, Gewerkschaft, Bürgerinitiative. Jetzt ist es nicht mehr zu ändern. Aber unbedingt zu hoffen und zu wünschen ist, dass es für die 124 Karstadt-MitarbeiterInnen doch noch eine Chance gibt, ihre Filiale in Singen bestehen bleibt und die KundInnen trotz Online-Handel und Event-Mall-Klimbim das solide Warenangebot des Kaufhauses gegenüber weiter schätzen. Langfristige Perspektiven sind heute völlig illusorisch, aber selbst weitere drei, vier oder fünf Jahre wären gerade für die in Singen beschäftigten langjährigen Angestellten so wichtig, auch für eine nicht allzu miese Rente …

Uta Preimesser

Aufmacherbild: Im Hintergrund links Reiner Geis (ver.di), daneben Oberbürgermeister Bernd Häusler, am Rednerpult SPD-Gemeinderat Hans-Peter Storz, daneben (rechts) Karin Greuther, Betriebsratsvorsitzenden von Karstadt und Heike Gotzmann, Betriebsseelsorgerin (alle Fotos: dh).


Siehe auch
24.06.2020 | Karstadt in Singen soll geschlossen werden – wer trägt die Verantwortung?