Begrabt mein Herz an der Biegung der Gäubahn
Die Landesregierung steht: Der Koalitionsvertrag zwischen Grünen und Schwarzen ist in Sack und Tüten, letzten Mittwoch hat der Landtag Winfried Kretschmann zum dritten Mal mehrheitlich zum Ministerpräsidenten gewählt. Der Verkehrsexperte Winfried Wolf hat die Geschäftsgrundlage der neuen/alten Regierung unter die Lupe genommen und festgestellt: Grüne und CDU wollen ein zweites Stuttgart 21 bauen.
Im November 1995 erschien – als Antwort auf die erste Machbarkeitsstudie für „Stuttgart21“, die im Januar 1995 vorgestellt wurde – mein erstes Buch zu Stuttgart 21. Genauer gesagt: gegen einen „S21-Bahnhof im Untergrund.“ Damals – also vor 26 Jahren – argumentierte ich, dass Stuttgart 21 eine Bauzeit von „30 Jahren“ erfordern würde. Aktuell geht man davon aus, dass das Projekt frühestens 2030 fertig ist. Ich sagte eine Kostenexplosion auf „rund zehn Milliarden“ voraus. Gemeint waren DM. Aktuell sind deutlich mehr als zwölf Milliarden Euro realistisch. Damals widersprachen wir vor allem der zentralen Aussage der S21-Befürworter, dass der Kopfbahnhof als Konstruktion veraltet und mit seinen 16 Gleisen für eine Kapazitätssteigerung ungeeignet sei und dass der neu zu bauende unterirdische S21-Durchgangsbahnhof mit seinen acht Gleisen eine Leistungssteigerung bringen könnte. Letzteres wurde in dem Buch damit belegt, dass wir die Zahlen der Zugbewegungen im seit 1922 bestehenden Kopfbahnhof für den Zeitraum 1938 bis 1988 dokumentierten und damit deutlich machten: Es gab Zeiten mit doppelt so hoher Auslastung des Kopfbahnhofs als Anfang der 1990er Jahre. Es gehe, so unsere Bilanz, bei Stuttgart 21 demnach allein um ein gigantisches Spekulationsprojekt – um die Bebauung der rund 70 bis 100 Hektar Gleisanlagen. Wobei die neuen Gleisanlagen auf Steuerzahlerkosten in den Untergrund verlegt werden sollen, was wegen der Bodenbeschaffenheit (Anhydrit!) und wegen der dann zu bewältigenden Steigungen beziehungsweise des Gefälles (15 Promille selbst im Bahnhofsbereich) und nicht zuletzt wegen des nicht vorhandenen Bandschutzkonzepts im Wortsinne ein brandgefährliches Unternehmen sei.
Teil des Widerstands gegen Stuttgart 21 waren im Zeitraum 1995 bis 2011 die Grünen, prominent vertreten von Winfried Hermann. Und auch wenn die Grünen als diejenige Partei, die seit Frühjahr 2011 in Baden-Württemberg den Ministerpräsidenten und den Verkehrsminister stellen, in den vergangenen zehn Jahren eine echte Transformation als Partei und die Herren Winfried Kretschmann und Winfried Hermann eine erstaunliche politische Umpolung vollzogen haben – bis vor wenigen Tagen hätte ich mir nie und nimmer vorstellen können, was jetzt mit dem Koalitionsvertrag von Grün-Schwarz dokumentiert wird: Die alte und neue Landesregierung will nicht nur Stuttgart 21 mit all seinen Absurditäten, Abnormitäten und Auswüchsen weiter bauen. Grün-Schwarz plant ein ZWEITES Stuttgart 21.
Wie das? Und: Warum gibt es keinen diesbezüglichen Aufschrei in den bundesdeutschen Medien? Warum wird derlei nur auf Telepolis und seemoz ausgebreitet? Gute Fragen!
Blättert man im Koalitionsvertrag bis auf Seite 124, dann ist dort zu lesen: „Wir wollen in einem ständigen Prozess den Eisenbahnknoten Stuttgart für die Anforderungen weiterer Angebotssteigerungen in künftigen Jahrzehnten […] zukunftsfähig machen. Wir vereinbaren daher eine Initiative ‚Eisenbahnknoten Stuttgart 2040‘ […] Wir setzen uns aktiv für weitere Ergänzungen ein. […] Dazu gehören die Ergänzungsstation und ihre Zuläufe“ [und der] „Ausbau der Gäubahn zwischen Stuttgart und Singen mit dem langen Gäubahntunnel zum Flughafen.“
Wenn bei diesen Formulierungen der Sprengsatz noch versteckt und die Sprache verklausuliert ist, so konnte man das deutlicher in der „Stuttgarter Zeitung“ wie folgt ausgeführt lesen. „Vor der Koalitionsbildung im Land zeichnet sich eine für Stuttgart und Region spektakuläre Entwicklung ab. […] Neben dem achtgleisigen unterirdischen Durchgangsbahnhof in der Stuttgarter Innenstadt soll ein Ergänzungsbahnhof als bis zu sechsgleisiger Kopfbahnhof gebaut werden, für den sich […] vor allem Winfried Hermann stark gemacht hatte. […] Der Kopfbahnhof im Untergrund […] wäre bei sechs Gleisen 210 Meter lang und 60 Meter breit. […] Er würde direkt an den S21-Durchgangsbahnhof andocken. Die zuführenden Gleise will man in Tunnel legen, damit die von der Stadt geplante Bebauung auf den frei werdenden Gleisflächen möglichst wenig behindert wird. […] Außerdem soll die neue Landesregierung auch den Bau eines Gäubahntunnels am Flughafen angehen.“ (Stuttgarter Zeitung vom 3. Mai 2021).
All das ist wahrlich spektakulär. Und dies auf fünf Ebenen:
1. Kostenexplosion: Die Kosten für das Gesamtprojekt Stuttgart 21 erhöhen sich um offiziell weitere 1,6 Milliarden Euro, realistisch gerechnet sind es mehr als 3,5 Milliarden Euro. Das gesamte Projekt S21 wird damit zwischen 15 und 20 Milliarden Euro teuer. Im Schwabenland wird das größte und teuerste Infrastrukturprojekt Deutschlands gebaut. Wobei sich die Verfasser des Koalitionsvertrags an das schwäbische Motto „Mr gäbet nix“ halten und in den Vertrag hineindiktierten, dass die neuen Projekte „ohne Zusatzkosten für das Land“ umzusetzen und „durch den Bund“ zu finanzieren seien.
2. Ein halbes Jahrhundert lang Großbaustelle: Die Bauzeit des Gesamtprojekts verlängert sich um mindestens ein Jahrzehnt und weit in den 2040er Jahre hinein. Für die beiden neuen Großprojekte „Ergänzungsbahnhof“ und „Gäubahn-Tunnel“ gibt es ja noch nicht einmal genaue Planungen, geschweige denn ein Planfeststellungsverfahren. Grün-Schwarz mutet der Stuttgarter Bevölkerung eine Großbaustelle im Zentrum der Landeshauptstadt mit bis zu einem halben Jahrhundert Bauzeit zu.
3. Doppelter Offenbarungseid: Mehr als zwei Jahrzehnte lang behaupteten die Deutsche Bahn, die Bundesregierung und CDU, FDP und SPD, mit Stuttgart 21 – dem achtgleisigen Durchgangsbahnhof im Untergrund – käme es zu einer Vergrößerung der Schienenkapazität im Vergleich zum bestehenden Kopfbahnhof mit 16 Gleisen. Gleichzeitig wurde behauptet, die Konstruktion eines Kopfbahnhofs sei veraltet; nur ein Durchgangsbahnhof komme als Ersatz in Frage. Jetzt gibt es den doppelten Offenbarungseid: Stuttgart 21 ist zu klein – nach mehr als zehn Jahren Bauzeit wird erkannt: man braucht sechs weitere Gleise. Und: Die „Erweiterungsstation“ soll ein Kopfbahnhof sein.
4. Tunnelbauwahn: Teil des Projekts Stuttgart 21 sind in der bisherigen Planung mehr als 50 Kilometer Tunnelbauten. Jetzt sollen weitere Tunnelbauten in vergleichbarer Länge, darunter der „Gäubahn-Tunnel“ mit 24 Kilometern Tunnelröhren hinzukommen.[2] Es gibt dann keine vergleichbar große Stadt in der Welt, in deren Untergrund es derart viele Tunnel – insgesamt mehr als 100 Kilometer lang – gibt. Wobei Tunnelbauten ein aktiver Beitrag zur Klimazerstörung sind. Die Treibhausgas-Emissionen je Tunnel-Kilometer werden auf 15.000 Tonnen geschätzt. Für den gewaltigen S21-Untergrundbahnhof kommt eine gute Million Tonnen Treibhausgase hinzu. Die bis Anfang 2021 geplanten Tunnelbauten wurden in einer von dem Verkehrsplaner Karlheinz Rößler erstellten Studie auf 1,9 Millionen Tonnen geschätzt. Die im Koalitionsvertrag festgehaltenen Zusatzbauten sind mit weiteren mehr als einer Million Treibhausgasemissionen (u.a. für den Einsatz von Stahl und Beton) verbunden. Zum Vergleich: Alle in Stuttgart zugelassenen Pkw stoßen im Jahr rund 900.000 Tonnen Treibhausgase aus. Grün-Schwarz plant in den kommenden Jahren zusätzlich Treibhausgasemissionen, die mehr als das Doppelte dessen ausmachen, was die gesamte Pkw-Flotte in Stuttgart in einem Jahr an Treibhausgas-Emissionen abgibt. Vor dem Hintergrund des Karlsruher Klima-Entscheids und einer von den Grünen angeführten Landesregierung ist das eine verstörende Perspektive.
5. Panoramabahn-Kulturfrevel. Im grün-schwarzen Koalitionsvertrag gibt es die folgende Orwell´sche Formulierung: „Ausbau der Gäubahn zwischen Stuttgart und Singen mit dem langen Gäubahntunnel zum Flughafen.“ In Wirklichkeit geht es um das Gegenteil – den Abbruch einer weltberühmten Bahnstrecke exakt an der Stelle, wo diese besonders attraktiv ist. Der neue zehn Kilometer lange „Gäubahn-Tunnel“ mag rein quantitativ im Rahmen des gesamten Tunnelbauwahns nicht relevant sein. Es handelt sich jedoch um eine neue Qualität an Zerstörung – vergleichbar mit derjenigen, die die weitgehende Zerstörung des bestehenden Kopfbahnhofs, des Bonatz-Baus – einem Wahrzeichen der Stadt Stuttgart – darstellt.
Bei der vor 142 Jahren erbauten Gäubahn handelt es sich um eine Zugverbindung zwischen Stuttgart und Singen und weiter bis Zürich. Das war mehr als ein Jahrhundert lang eine wichtige Magistrale, auf der Züge zwischen Berlin und Italien verkehrten. Dass die Bahnstrecke zwischen Horb und Tuttlingen nur eingleisig ist, ist ein Kuriosum. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ die französische Besatzungsmacht ein Gleis abbauen – wohl als Wiedergutmachung für einen vergleichbar großen Gleisabbau, den die NS-Besatzungsmacht in den Jahren 1942-1944 zwischen Belfort und Becancon vornahm. Dass die Bundesbahn bzw. die Deutsche Bahn AG in einem Dreivierteljahrhundert Nachkriegszeit nicht in der Lage waren, diesen Flaschenhals zu beseitigen, ist charakteristisch für die Misere des Schienenverkehrs hierzulande.
Diese Gäubahn geht, von Zürich und Horb kommend, auf den letzten Kilometern im Vorfeld von Stuttgart in die sogenannte Panoramabahn über. Es handelt sich um eine wunderschöne Bahnstrecke, die – einen größeren Teil des Stuttgarter Talkessels umrundend und dabei langsam hinab gleitend – ab Vaihingen durch den Dachswald, über die Höhen von Heslach und den oberen Teil des Stuttgarter Westens bis zum noch bestehenden Stuttgarter Kopfbahnhofs führt. Ich gestehe, dass ich auf meinen langen Bahnfahrten – abgesehen vom Corona-Jahr 2020 sind es seit 1986 immer gut 40.000 Bahnkilometer im Jahr – eher selten Blicke auf die Landschaft werfe. Doch die Panoramabahn ist ein Bahnabschnitt, bei dem mir, immer auf der „richtigen“ Seite im Zug sitzend, buchstäblich das Herz aufgeht.
Diese Strecke ist derart historisch „belastet“ und sie wird in der Eisenbahn-Literatur zu Recht als ausgesprochen romantisch hervorgehoben und so auch im Film festgehalten[3], dass auch Heiner Geißer dem Tribut zollen musste. Als dieser am 30. November 2010 seinen fatalen, selbstherrlichen „Schlichterspruch“ zu Stuttgart 21 verkündete und sich dabei grundsätzlich für den Bau von Stuttgart 21 aussprach, formulierte er eine Reihe begleitender Maßnahmen, die auch bei Realisierung von Stuttgart 21 eingehalten werden müssten. Punkt 3 dieser Anforderungen lautete schlicht: „Die Gäubahn bleibt erhalten.“ Ausführlicher hieß es dazu, dieser Streckenabschnitt solle „auf Stuttgarter Stadtgebiet erhalten bleiben und über den Bahnhof Feuerbach an den Tiefbahnhof angebunden“ werden.
Doch auch dies wird nicht verwirklicht. Stattdessen soll die Gäubahn noch im Vorfeld von Vaihingen faktisch enden, in den erwähnten Gäubahn- (oder Bilger-) Tunnel verschwenkt werden, nach 12 Kilometern Tunnelstrecke zum Flughafen von Stuttgart geführt – und von dort in einem weiteren Tunnel – dem Filder-Tunnel – zum S21-Tiefbahnhof geleitet werden. Die Fahrtzeit Zürich – Stuttgart wird sich damit deutlich verlängern.
Vor allem wird der Schienenverkehr damit um eine Attraktion beraubt werden. Warum? Es gibt längere Fahrtzeiten. Es kommt zu gigantischen zusätzlichen Tonnen Treibhausgasen. Es werden weitere Milliarden Euro zusätzliche Steuergelder ausgegeben. Im Ergebnis wird dann nicht einmal die Kapazität des bestehenden Kopfbahnhofs erreicht werden.
Wobei voraussichtlich ab Oktober 2021 ein grüner Verkehrsminister in Stuttgart mit einem grünen Verkehrsminister in Berlin darüber verhandelt, aus welchem Topf man neues Steuergeld dem alten Steuergeld hinterherwerfen wird.
Winfried Wolf (der Beitrag erschien auch bei Telepolis.de)
Bild: S21 hautnah: „Tag der offenen Baustelle“ im Januar 2020 (Foto: Leopardengruen/CC0 1.0)
Anmerkungen:
[1] Winfried Wolf, Stuttgart 21 – Hauptbahnhof im Untergrund?, Köln 1995 (2. Auflage 1996).
[2] Der Gäubahntunnel, inzwischen auch nach dem CDU-Staatssekretär, der diesen puscht, „Bilgertunnel“ genannt, soll etwa 12 Kilometer lang sein. Da die Strecke zweigleisig ist und die EU in solchen Fällen zwei getrennte Tunnelröhren vorschreibt, verdoppelt sich die Länge der zu bohrenden und zu betonierenden Tunnelkilometer auf 24. Ergänzend kommt es bei einem neuen Zulauftunnel im Norden zu 20 neuen Tunnelkilometern. Andere, kleinere neue Tunnelprojekte addieren sich auf weitere gut zehn neue Tunnel-Kilometer. Der Ergänzungsbahnhof mit seinen sechs Gleisen und den damit verbundenen unterirdischen Zulaufstrecken dürfte schließlich nochmals bis zu 10 Kilometer Tunnelbauten mit sich bringen. Zu den Berechnungen bis Mitte Februar 2021, also noch ohne neue „Ergänzungsstation“, siehe Oliver Stenzel, Tunnelprobleme? Noch mehr Tunnel!, in: KONTEXT Nr. 517, vom 24. Februar 2021.
[3] Siehe den ausgezeichneten Film von Hermann Abmayr, Die Gäubahn – Das Ende einer Magistrale?, swr vom 25. Oktober 2019.
Verkehrswende-Illusion
„Die Gäubahn ist die Verkehrsader nach Stuttgart und Zürich. Aber auch zum Job nach Böblingen, Herrenberg oder Rottweil. Jetzt könnte wieder Murks drohen – doch die ganze Region gibt mit der Interessengemeinschaft Gäubahn nicht auf, für eine optimale Bahnverbindung zu kämpfen….
Dieter Rominger-Seyrich zieht folgendes Fazit: „So, wie das Bundesverkehrsministerium jetzt vorgeht, schafft es die Verkehrswende in der Region nicht.“ Dem stimmt auch OB Peter Rosenberger (Horb) zu: „Wir sind mittendrin in der Entwicklung eines Multi-Milliarden Projekts, welches konkrete Auswirkungen für unsere Bürger hat. Wir sollten auf das ausgetüftelte Ursprungs-Konzept des Deutschland-Takts auf der Gäubahn bestehen – und auf die verbindungsfreie Verbindung mit dem Flughafen und der Messe. Sprechen Sie alle Ihre Abgeordneten an – wir stehen auch vor einer wichtigen Bundestagswahl!„“
https://www.schwarzwaelder-bote.de/inhalt.bahnplanung-gibt-raetsel-auf-nach-euphorie-grosse-ausbau-ernuechterung.2cd12aff-abee-4310-8b54-3c6940ea6c32.html
Folgender wichtiger Satz aus dem Koalitionsvertrag, der noch vor den obigen unter Finanzierungsvorbehalt stehenden Themen steht, sei hier erwähnt:
„Die […] Projektverbesserungen wie die große Wendlinger Kurve, die Digitalisierung des Bahnknotens (ETCS) sowie den Erhalt der Panoramabahn werden wir umsetzen.“
Damit ist eines der wichtigsten Themen für Konstanz, nämlich die weitestgehend durchgängige direkte Anbindung der Gäubahn an den Stuttgarter Hauptbahnhof als konkretes Umsetzungsprojekt definiert!