8. Mai in Radolfzell: DemonstrantInnen fordern Entnazifizierung

Vor 75 Jahren, am 8. Mai 1945, kapitulierte die deutsche Wehrmacht bedingungslos. Für viele Millionen Menschen war das ein Tag der Befreiung. Die mit ihm vielfach verbundene Hoffnung, dass damit Faschismus und Krieg endgültig auf den Müllhaufen der Geschichte verbannt wurden, hat sich bekanntlich nicht erfüllt – im Gegenteil. Im Land der Täter erfahren neuerlich Kräfte Zuspruch, die Rassenwahn und völkischen Nationalismus predigen. Umso wichtiger sind öffentliche Manifestationen wie am Freitag in Radolfzell, gerade in schwierigen Zeiten.

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Unter strengen Corona-Auflagen der Behörden durften sich dort zwischen 18 und 19 Uhr offiziell 29 Menschen unter Wahrung von Abstand und mit Atemschutz versammeln, um des Tags der Befreiung vom deutschen Faschismus zu gedenken. Der Ort der Veranstaltung, der von einem feministischen Kollektiv organisierten und von weiteren antifaschistischen und zivilgesellschaftlichen Gruppen aus der Region unterstützten Veranstaltung, war nicht zufällig gewählt. Auf dem Luisenplatz steht ein NS-Soldatendenkmal, das bis heute alten und neuen Nazis als Pilgerort dient. Wie kaum ein anderer Ort im Landkreis verkörpert es den geschichtsvergessenen Umgang der staatlichen Verantwortungsträger mit den Verbrechen der Vergangenheit. Immer noch werden in der Stadt, in der während der Nazizeit auch eine SS-Kaserne angesiedelt war, groteskerweise auf einer Gedenktafel SS- und Wehrmachtstäter als Opfer verharmlost und beim jährlich auf dem Platz zelebrierten „Volkstrauertag“ mitgeehrt.

Auf einen von ihnen machte eine Rednerin der Veranstalterinnen aufmerksam. Heinrich Koeppen, erster Leiter der in der Kaserne angesiedelten SS-Unterführerschule. Der von Himmler persönlich zum Kommandeur der SS-Standarte „Germania“ ernannte überzeugte Nationalsozialist hat etwa die Zerstörung und Plünderung der Synagogen in der Region veranlasst und zeichnete verantwortlich für Gräueltaten seiner Standarte bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei und des Überfalls auf Polen. Mittlerweile von der Stadtverwaltung beim Denkmal aufgestellte Glastafeln, die erklären wollen, was damals geschah, reichten nicht aus, betonte die Rednerin. „Weg mit den heuchlerischen Gedenktafeln: Dort steht ‚Opfer‘ als Überschrift, aber unter den Namen sind alleine 102 Täter der SS aufgelistet. Mit anderen Worten: wir stehen hier an einem Ort, wo auch heute noch um Nazis getrauert wird!“ Die InitiatorInnen fordern deshalb ein anderes Denkmal, das den wirklichen Opfern, allein 234 ins Lager Gurs verschleppte Jüdinnen und Juden, angemessen gedenkt: „Entnazifizierung jetzt“.

Doch nicht allein die behördliche Schwamm-drüber-Mentalität war Thema bei der Kundgebung. Eine Vertreterin der Konstanzer Seebrücke erinnerte an die Neuformulierung der Menschenrechte in der UN-Menschenrechtscharta 1948 als Konsequenz aus den Erfahrungen mit der NS-Herrschaft. Darunter der Artikel 13, der Menschen auch das Recht gibt, ihr Herkunftsland zu verlassen. Dagegen verstoße eine unmenschliche europäische Migrationspolitik seit Jahren. „Wir erinnern an das Aussetzen der EU-Seenotrettung, das EU-Türkei-Abkommen 2016, die Kriminalisierung der privaten Seenotretter*innen, die Zusammenarbeit mit kriminellen Banden in Libyen und letzter trauriger Höhepunkt, die Schüsse an der griechisch-türkischen Kämpfe Anfang März.“ Die Corona-Pandemie habe die Lage von zur Flucht getriebener Menschen unerträglich verschlechtert, etwa in den Übergangslagern auf den griechischen Inseln. Zu den unerträglichen Lebensbedingungen dort kommt nun die Sorge um die Gesundheit dazu, trotzdem werden die Lager nicht evakuiert. „Es passiert immer noch viel zu wenig. Die Aufnahme von gerade mal 47 unbegleiteten Jugendlichen anstatt wie Ende 2019 angekündigt 1500 Menschen ist eine Schande.“

Scharf kritisierte die Rede zudem den behördlichen Umgang mit Geflüchteten in Deutschland. Das Aufstellen von Zäunen um Unterkünfte wie in Radolfzell und Konstanz geschehen sei eine „Stigmatisierung und unmenschliche Behandlung“ derer, die dort leben müssten. „Angesichts der Krise, die besondere Hygiene- und Schutzmaßnahmen erfordert, denken wir, kann die Antwort doch anstatt dessen nur sein, die Menschen endlich vernünftig unterzubringen, zum Beispiel aktuell in ja ohnehin leerstehenden Ferienwohnungen oder Hotels. Und diese Zäune müssen natürlich weg.“ Die Seebrücke-Bewegung zeige, dass Humanität kein Auslaufmodell ist, wie es die Rechten glauben machen wollten. „Viele Menschen wollen gerade jetzt in der Krise solidarisch sein. Viele verstehen: Es sind auch unsere Rechte, die auf dem Spiel stehen, an der Grenze und in den Aufnahmelagern. Menschenrechte dürfen keine Privilegien werden, denn dann sind sie für uns alle in Gefahr.“

An diese Gefahr erinnerte auch die Rednerin der VVN-BdA, traditionsreichste antifaschistische Organisation der Republik. Die zahlreich zu beobachtenden Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten seien objektiv zwar notwendig, um ein Massensterben zu verhindern. Gleichzeitig sei indes erkennbar, dass in vielen Ländern wie etwa Ungarn „bereits zuvor erkennbare autoritäre und restriktive Entwicklungstendenzen verstärkt und beschleunigt werden“. Auch hierzulande gebe es bei Bundes- und Landesregierungen solche Tendenzen.

Stattdessen sei in der Krise Augenmaß gefragt, so die Überzeugung der VVN-BdA: „Spaziergänger sind keine Verbrecher“. Verordnungen und Maßnahmen etwa müssten immer konkret begründet, zeitlich befristet, durch unabhängige Experten bewertet und ausgewertet werden, sowie auf das notwendige Maß beschränkt bleiben. Begleitende parlamentarische Kontrolle sei zudem unverzichtbar. Besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen wie Obdachlose oder Geflüchtete bedürften überdies besonderer Fürsorge, nicht „martialischer Abschottung“. Nach dem Abklingen der Pandemie sei zudem eine breite gesellschaftliche Auswertung vonnöten: „Welche Maßnahmen haben sich im Nachhinein als richtig erwiesen, auf welche könnte in einem ähnlichen Fall verzichtet werden?“

Mit Blick auf den Befreiungstag selbst erinnerte die VVN-Vertreterin schließlich an die von der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejanaro und seiner Organisation ins Leben gerufene Initiative, den 8. Mai als Tag der Befreiung vom Faschismus zum bundesweiten Feiertag zu machen. „75 Jahre nach dem wichtigsten Tag des 20. Jahrhunderts ist es an der Zeit und auch bitter notwendig, endlich konsequent Lehren aus den Verbrechen des NS-Regimes zu ziehen. Ein gesetzlicher Feiertag würde dies symbolisieren und könnte Ausgangspunkt für entsprechendes politisches Handeln sein.“

jüg (Fotos: FAK)