Im Dialog mit der Maschine (Teil I)

Im Richental-Saal des Kulturzentrums am Münster ist noch bis zum 5. Dezember eine Ausstellung zu sehen, die in Zusammenarbeit der Künstlerin Liat Grayver mit dem Malroboter e-David der Arbeitsgruppe Visual Computing der Universität Konstanz und dem Informatiker und Graffitikünstler David Berio entstanden ist. Ein Gespräch mit Liat Grayver, Oliver Deussen und Marvin Gülzow über „InComputable Imagery. Den Pinselstrich neu erfinden“.

Lesen Sie hier Teil II und hier Teil III dieses Gesprächs.

Der Richental-Saal präsentiert sich in dieser Ausstellung weit und licht: die großen Fenster sind nicht verhängt, Tageslicht strömt herein und umspielt Tuschezeichnungen, die, in schlichten Holzrahmen von der Decke hängend, im Raum zu schweben scheinen. Die Bilder zeigen in kurzen Pinselstrichen dynamisch hingeworfene Wolken, Ovale, Schwarmbewegungen. Man kann sie von vorn und hinten betrachten. Das Reispapier ist transparent. Es sind Bilder mit einer aktiv bemalten und einer passiv durchlässigen Seite.

Das digitale Bild hat keine Rückseite.

Der Informatiker und Computerkünstler Frieder Nake hat einmal gesagt, das digitale Bild habe keine Rückseite. Traditionelle Gemälde wiederum kann man umdrehen, aber es ist ganz klar, wo vorn, wo hinten ist, was Bild ist und was einfach Trägermedium. Das ist hier schwieriger. Beide Seiten sind gleichermaßen Bild und tragendes Medium, sie zeigen sich als handelnd und reagierend. Der Strich, der vorn auf das Papier aufgetragen wird, ist auf der Rückseite des Bildes zu sehen: das einschreibende und das aufnehmende Medium treten in einen Dialog miteinander, den das Bild selbst ausstellt und erfahrbar macht.

Es sind Bilder, die unmittelbar eine Bewegung von den sie Betrachtenden verlangen. Man kann nicht in stiller Einkehr stehen bleiben, sondern muss sich Bild für Bild umrundend und von Bild zu Bild mäandernd durch den Raum bewegen, der in dieser Bewegung selbst zu einem Bildraum wird. Das ist nicht einfach ein Saal mit Bildern darin. Das ist ein Ort, der zu einem Bild wird, in dem man sich bewegt.

Liat Grayver: Deshalb wollte ich auch diesen wunderschönen Raum und sein historisches Gewicht. Ich wollte, dass dieser Raum Teil des Gesprächs wird. Ich wollte Technologie in einen Zusammenhang mit unserer menschlichen Geschichte bringen. Technologie tritt oft so geschichtslos aktuell auf. Mir geht es um ein Gespräch zwischen Neuem und Altem.

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Albert Kümmel-Schnur: Dann lass uns über den Raum sprechen. An der Wand sind die Spuren mittelalterlichen Handwerks konserviert. Als ich Dir diesen Raum zeigte, hast Du diese Markierungen an der Wand gleich als sehr affin zu Deiner eigenen Arbeit gesehen.

Liat Grayver: Ja! Es gibt da diesen Rhythmus – vielleicht wurden die Löcher in eher zufälliger Ordnung in die Wand geschlagen. Trotzdem ist da ein erkennbarer Rhythmus. Eine Korrespondenz zwischen den einzelnen Elementen.

Was ist der Ort dieser Bilder, was ist ihr Sein? Ist das Bild das, was der Pinsel auf das Papier gemalt hat – vorn also? Oder ist das Bild der Ort des Gesprächs zwischen gebendem und nehmendem Medium, Akteur und Patient? Oder ist das Bild der Ort der Rekonstruktion dieses Gesprächs im sich betrachtenden Blick? Oder entsteht es gar erst in der Bewegung einer Betrachterin, eines Betrachters durch den Raum? Handelt es sich um Bilder, die eigentlich erst in der Vorstellung entstehen, die also eine eigene Kreativität der Betrachtung verlangen?

Liat Grayver: Wir haben einfach die Frage gestellt ‚Was ist eigentlich ein Pinselstrich‘? Es ist sehr schwierig, das informatisch zu beantworten. Was wir sehr schnell als Pinselstrich erkennen, kann die Maschine nicht. Denken wir beispielsweise an Aby Warburgs „Atlas“ – er versuchte immer zu verstehen, was eigentlich ein Bild schön macht. Er meinte damit: ‚Was macht es für uns anziehend‘. Und da geht es um Spuren von Bewegung, von Leben – um Dynamik. Diese Dynamik können wir im Gemälde sehen. Reicht es dafür, drei aufeinander folgende Striche zu sehen? Oder gar zwei? Wir können das – die Maschine kann das nicht. Die Grundlage von Malerei ist ein Strich, ein Pinselstrich. Und in dem Strich gibt es Flächen, es gibt Grenzen, es gibt unterschiedliche Farbdichte, es gibt auch Energie.

Albert Kümmel-Schnur: Die asiatische Tuschtradition, auf die Du Dich beziehst, hat ja immer schon dem einzelnen Strich eine ganz andere Wertigkeit zugesprochen als ein Großteil der europäischen Maltradition, die erst einmal darauf hinausläuft, den Strich unsichtbar zu machen. Höhepunkt ist hier vielleicht der akademische Historismus. Die asiatische Tuschzeichnung und insbesondere die Kalligraphie aber denkt von vornherein den Strich.

Liat Grayver: Aus eben diesem Grund wollte ich mit einer Maschine zusammenarbeiten. Ich komme selber nicht aus Europa. Meine Familie kommt nicht aus Europa. Meine Familie kommt aus dem Irak. Ich bin im Nahen Osten groß geworden, aber mit den europäischen kolonialen Ideen davon, was ein gutes Bild sein sollte. Was überhaupt als Bild gelten darf. Mit diesen Gedanken bin ich mit 21 Jahren nach Europa ausgewandert, habe in Leipzig an einer ganz renommierten Kunstakademie für deutsche, für europäische Malerei studiert. Die Arbeit mit dem Computer gab mir die Gelegenheit, den ganzen Prozess neu zu denken. Hier ist die Beschreibungssprache die Mathematik. Und durch Kinematik. Wir haben über Muster gesprochen. Das ist ein zentrales Element von folk art, native art aus Afrika, aus Südamerika oder auch dem islamischen Raum und dem Nahen Osten. Da hat die Malerei als Prozess immer diese Endlosigkeit.

In der europäischen Tradition versucht man, durch ‚visual feedback‘ die Bildentstehung zu kontrollieren.

Es geht nicht um das Bild als ein Objekt in einem Rahmen oder auch nur in einem Raum. Das Bild ist vielmehr Teil einer ganzen architektonischen Struktur. Und das haben wir auch in dieser Ausstellung gemacht. Die Bilder hängen im Raum und strukturieren ihn, sie sind nicht Dinge, die an der Wand hängen. Diese Arbeit mit kalligraphischen Elementen stellt nochmal die Frage nach Kontrolle durch meinen Blick oder meine Handlungen, durch die Bewegungen meines Körpers. In der europäischen Tradition versucht man durch ‚visual feedback‘, die Bildentstehung zu kontrollieren.

In der japanischen Kalligraphie, die ich studiert habe, geht es erst mal darum, wie ich sitze, wie ich atme, wie ich die Hand bewege … Und dann passiert was, und das ist einmalig. Es kann nicht korrigiert werden. Ölmalerei kann immer noch korrigiert werden. In der Kalligraphie musst Du mit dem Ergebnis leben. Und Dich selbst verändern. Wenn man über Technologie spricht, egal, ob es sich um einen Pinsel oder einen Roboter handelt: diese Holistik, das verstehe ich – unter Bezug auf Ursula Franklins Unterscheidung von holistischer und präskriptiver Technik – unter Technologie. Holistisch ist eine Technik, die dem Praktizierenden Kontrolle über einen ganzheitlichen Prozess gibt, wie es im traditionellen Handwerk der Fall ist. „Präskriptiv“ nennt Franklin eine Technik, die einen Prozess wie in der industriellen Fertigung in viele, voneinander unabhängige Abschnitte unterteilt. Ich spreche in diesem Sinne von einem holistischen Raum für Improvisation. Wie improvisierte Musik – alle reagieren aufeinander. Es ist ein Gespräch. Im Vergleich dazu sind Orchestermusiker in der europäischen Tradition eher wie Soldaten.

Da gibt es keinen Raum fürs Experiment …

Wir verhalten uns im Umgang mit Maschinen eher wie klassische Orchestermusiker als wie improvisierende Musiker. Da gibt es keinen Raum fürs Experiment. Wir lassen uns durch die Maschinen begrenzen, statt sie als Möglichkeiten zu nutzen, unsere Denkräume zu vergrößern. Ich versuche hier, ein offenes Gespräch mit der Technologie zu führen. Das ist so weit weg von jeder Vorstellung eines ‚fertigen‘ Bildes. Das ist zwar ein sehr großes Thema, das zu ausführlichen Erkundungen reizt, aber es wurde mir einfach zu viel. Ich habe meine Arbeit deshalb auf das einfachste Element reduziert, das mir zu verstehen half, wie Entscheidungsfindung funktioniert, wie ein Pinselstrich zum nächsten führt. Das ist eine Intelligenz, die vom Körper her kommt und vom Geist und vom Auge. Diese Transformation ist für die Maschine eigentlich unmöglich. Allerdings kann die Maschine ein Aufzeichnungsgerät für Transformationsprozesse sein, das uns als Gesellschaft und als Individuen dabei hilft, über die Prozesse der Entscheidungsfindung nachzudenken. Deshalb möchte ich so viele einzelne Striche machen und sie so präsentieren, dass Besucherinnen und Besucher beobachten können, wie die Transformation durch die Maschine hindurchläuft. Zu beobachten, wie die Reaktion auf ein Element ein neues erzeugt, genau das gibt die Gelegenheit, die Kreativität in uns selbst zu sehen. Ich sage der Maschine nicht, was sie tun soll, sondern ich warte mit der Maschine, und die Maschine eröffnet mir eine neue Möglichkeit.

Was: Ausstellung „InComputable Imagery: Den Pinselstrich neu erfinden“ von Liat Grayver, Artist in Residence des Kulturwissenschaftlichen Kollegs Konstanz, im Zusammenspiel mit dem Malroboter e-David. Wann: Bis Sonntag, 5. Dezember 2021. Geöffnet Dienstag bis Freitag 10-18 Uhr; Samstag und Sonntag 10-17 Uhr, mit zusätzlichem Livestream unter: incomputable.de/InComputable-Imagery-DE/. Wo: Kulturzentrum am Münster, Richental-Saal; Wessenbergstraße 43, 78462 Konstanz. Es gilt die 2G-Pflicht.

Text: Albert Kümmel-Schnur. Die Fotos wurden von der Agentur Kameradinnen aus Konstanz gemacht.