Abschied von Jürgen Geiger
Noch immer ist die Trauer über den allzu frühen Tod von Jürgen Geiger groß, denn mit ihm ging der Stadt ein wichtiger politischer Mahner und Gestalter der letzten Jahrzehnte verloren. Mitte Oktober verabschiedeten sich FreundInnen und MitstreiterInnen von ihm. Aufgrund der Corona-Bestimmungen waren nur 50 Personen bei der privaten Trauerfeier zugelassen. Grund genug also, die gehaltenen Redebeiträge an dieser Stelle zu veröffentlichen.
Grußwort der LINKEN aus Stuttgart
Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen,
lieber Jürgen, du solltest eigentlich jetzt an diesem Wochenende im Präsidium des Landesparteitags sitzen und den Parteitag mit leiten. Das hättest du auch schon am letzten Wochenende beim Landesausschuss getan. Leider bleibt dein Stuhl für immer leer. Das macht uns traurig, haben wir doch einen langen gemeinsamen Weg hinter uns.
Aus dem Landesverband der LINKEN in Baden-Württemberg kennen dich einige seit den 1970er Jahren. Da studiertest du in Konstanz, warst in einer kommunistischen Hochschulgruppe des KBW und später des BWK. Schon damals hast du dich jeder Ungerechtigkeit in den Weg gestellt und für den demokratischen Sozialismus gestritten.
Andere lernten dich in der PDS und später nach dem Zusammenschluss mit der WASG in der Partei DIE LINKE als einen Menschen kennen, der immer an der Seite von sozialen, antirassistischen und antifaschistischen Bewegungen kämpfte. Du warst ein „Kümmerer“ und hast unsere Partei mit aufgebaut.
Auf dich war immer Verlass. Ruhig hast du dir die Sachen angeschaut, überlegt und nie vorschnell gehandelt. Wenn du dann entschieden warst, dann hast du angepackt.
Du warst immer mit der kurdischen Bewegung und der türkischen Linken eng verbunden. Du hast mit ihnen für einen neuen Mittleren Osten gekämpft, gegen die deutschen Waffenlieferungen an den türkischen Staat und das Verbot der PKK und die Verfolgung kurdischer Aktiver in Deutschland. Mit Begeisterung hast du die Entwicklungen in Rojava begleitet, gemeinsam mit anderen Demonstrationen und Veranstaltungen organisiert.
Jürgen, du fehlst uns und wir werden dich in guter Erinnerung behalten.
DIE LINKE Baden-Württemberg
Landesvorstand und Präsidium des Landesausschusses:
Sahra Mirow, Kathleen Kamprath, Heidi Scharf, Sabine Skubsch, Dirk Spöri, Bernhard Strasdeit, Elwis Capece, Christoph Cornides, Alexander Kauz, Rudolf Bürgel
Trauerrede
Jürgen Geiger war wahrlich keiner der Stillen im Lande. Ziemlich viele Leute in der Stadt und im ganzen Ländle auch außerhalb der linken Politkreise kannten ihn – und so manche konnten ihn nicht ausstehen. Geiger – wir sprachen uns gegenseitig mit Nachnamen an, und so will ich es auch heute halten – war weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick ein charmanter Menschenfänger, und das wollte er wohl auch nicht sein. Weder bei politischen Debatten, bei denen oft die Fetzen flogen, noch in privaten Diskussionen.
Er hatte aber auch ein gewisses Recht zu seinem für manche Zeitgenoss:innen brüskierenden Auftreten. Mir ist nämlich kein anderer Mensch bekannt, der sich derart leidenschaftlich und bedingungslos sein gesamtes Erwachsenenleben lang für das einsetzte, was ihm am wichtigsten war, einfach weil er es für richtig hielt: für linke Politik. Für ihn stand die Politik über privaten Erwägungen. Ich habe nie erlebt, dass er sich gefragt hätte, was die Politik ihm bringen könnte, Geld, Posten, Anerkennung. Seine Frage war immer, was er für die kleinen Leute, für das Proletariat, für die Minderheiten, für die er sich einsetzte, tun konnte. Dabei ging sein Horizont weit über Mitteleuropa hinaus, er war ein in der Wolle gefärbter Internationalist.
Ich kenne zudem keinen anderen Menschen, der ähnlich diszipliniert war wie er. In den achtziger Jahren schien er oft kaum zu schlafen, da er stets in Sachen Politik unterwegs war. Vom Flugblattverteilen im Morgengrauen über Wochenendschulungen in Köln bis zur Mitarbeit im AStA an der Universität reichte schon damals sein Repertoire. Dass er trotz seines prallen Terminkalenders 1985 seinen Universitätsabschluss schaffte, war vor allem seiner Begeisterung für Literatur und großen Disziplin zu verdanken. Dass er mit seinen politischen Aktivitäten im Staatsdienst nicht landen konnte, wusste er ohnehin, und viele seiner Genoss:innen erhielten in dieser Zeit Berufsverbot. Seine Akte beim Verfassungsschutz dürfte derart umfangreich sein, dass sie sich vermutlich nur mit einem Gabelstapler wegschaffen ließe.
Kaum jemand konnte Missstände und Personen auf Versammlungen schärfer geißeln als Geiger. Er polterte engagiert gegen alles, was ihm missfiel. Er konnte in Debatten jeglicher Art schnell auf eine Betriebstemperatur und Lautstärke kommen, die selbst seinen Freund:innen zuweilen an die Nerven ging. Bei Sitzungen der Linken Liste Konstanz durften wir das bis vor wenigen Monaten immer wieder einmal erleben. Viele ihm wohlgesonnene Menschen brauchten einige Zeit, um einzusehen, dass er das nicht persönlich meinte. Die weniger Wohlgesonnenen mussten es eh nie kapieren.
Ich lernte Geiger etwa 1979 an der Uni kennen, als ich nach einer viel zu langen Nacht in der Cafeteria saß und mit kalter Buttermilch gegen die morgendliche Verzweiflung antrank. Da trat ein dürrer Kerl mit großer runder Brille an meinen Tisch, den ich flüchtig vom Sehen kannte. Er: „Unterschreib‘ hier für den bewaffneten Volksaufstand in Aden und anderswo.“ Ich: „Verzieh‘ Dich, mir geht’s saumäßig.“ Er hebt zu einem längeren Vortrag über die Bedeutung der Befreiungsbewegungen für die Zukunft der Menschheit an. Ich schaue nur noch genervter aus der Wäsche. Er nutzt seine Chance: „Ich spreche Dich nie wieder an, wenn Du hier unterschreibst.“ Ich: „Versprochen?“ Er: „Versprochen“.
Das war ein Beginn unserer wunderbaren Freundschaft, denn ich habe unterschrieben, um meine Ruhe zu haben und meine Morgendepression richtig ausloten zu können, noch ehe die Buttermilch warm wurde.
Er hat seinen Teil unserer Verabredung – zum Glück – nicht gehalten, wenige Jahre später wohnten wir in einer WG zusammen.
In den achtziger Jahren konnte Geiger dann auch eine zweite Passion entfalten, die er schon lange pflegte. Er arbeitete beim „Nebelhorn“ mit, einem Konstanzer Regionalmagazin mit politischem Anspruch. Politik hieß für ihn nicht nur zu reden, zu demonstrieren und Häuser zu besetzen, sondern vor allem auch zu schreiben, um möglichst viele Menschen zu erreichen und zu mobilisieren.
Mit dem Schreiben verdiente er übrigens auch sein Geld. Er arbeitete von 1987 bis 2001 festangestellt als technischer Redakteur in Friedrichshafen. 2001 machte er sich dann in diesem Beruf selbständig, er schrieb also Bedienungsanleitungen, etwa für Drucker. Das ist kein reines Zuckerschlecken, und so hatte er in den letzten 20 Jahren immer wieder mit den wirtschaftlichen Tücken der Selbständigkeit zu kämpfen, blieb auch mal auf Rechnungen sitzen oder musste längere Phasen ohne Aufträge überbrücken.
Ich habe mit ihm vor allem in den letzten 5 Jahren auch beruflich eng zusammengearbeitet. Dabei habe ich Eigenschaften an ihm zu schätzen gelernt, die ihn zu einem idealen Kollegen machten: Ein geradezu ungeheuerlicher Fleiß und vor allem absolute Verlässlichkeit. Ein Freund, ein Wort. Man brauchte ihn an seine Zusagen nicht zu erinnern, man musste ihn nicht zum Jagen tragen, und seine Texte lieferte er – wie in der Branche üblich – unweigerlich pünktlich wenige Tage oder Wochen nach Redaktionsschluss ab, aber immer gerade noch rechtzeitig und auf den letzten Drücker. Es war eine Zusammenarbeit, wie man sie sich besser nicht hätte wünschen können, und ich weiß bis heute noch nicht, ob das bei ihm angeborene schwäbische Ordentlichkeit war, oder ob er sich diese revolutionäre Arbeitsdisziplin erst während seiner politischen Arbeit aneignete.
Besser geht es nicht, und das gilt auch für unsere paar gemeinsamen Jahre bei „seemoz“. Wir hatten seit etwa 2010 immer mal wieder etwas für seemoz geschrieben, aber als HP Koch, einer der beiden Macher des Online-Magazins, am 23. Januar 2019 überraschend starb, stiegen wir dort richtig ein. Geiger schrieb nicht nur geschliffen und weiterhin sehr kämpferisch über Politik, er eignete sich auch die technische Seite an und stellte als Administrator seemoz Tag für Tag ins Netz. Und das über Jahre, Urlaub kannte er kaum, einen Feierabend auch nicht. Wenn ein Text, der um Mitternacht erscheinen sollte, erst um 23.40 Uhr bei ihm ankam, war er selbstverständlich immer noch zur Stelle, das eigentlich Unmögliche möglich zu machen.
In den letzten Jahren schien sein Leben fast nur aus politischer und beruflicher Arbeit zu bestehen, zumal er seinem liebsten Hobby, dem Segeln, wegen fehlender Zeit und in Ermangelung eines Liegeplatzes kaum noch nachgehen konnte. Er war Mitglied einer Segelkameradschaft an der Ostsee, die ein hochseetaugliches Segelschiff betrieb, und baute seit langem mit einem hiesigen Bootsbauer an seinem eigenen Boot – natürlich nach klassischen Plänen, die er sich in den USA besorgt hatte, und natürlich aus Holz. Das Maritime schlug notfalls sogar das Politische in ihm: Er bewunderte die – wie wir alle wissen: imperialistische – britische Marine des 18. und 19. Jahrhunderts wegen ihrer seemännischen Leistungen, und als Pseudonym wählte er, wenn er mal eins nötig hatte, Horatio Nelson, den Sieger der Seeschlachten von Kopenhagen und Trafalgar.
Vom Leben auf See sprach er ohnehin gern, von einem gemeinsamen Segeltörn nach Istanbul, von einer Einhand-Tour über den Atlantik – natürlich ohne GPS und nur mit einem Sextanten. Aber mir kamen in den letzten Jahren zunehmend Zweifel, ob er auch nur eine dieser Reisen tatsächlich antreten wollte. Weite Reisen unternahm er letztlich – so glaube ich zumindest heute – doch lieber mit dem Finger auf der Landkarte oder in seiner Phantasie.
Viele dieser angedachten Törns waren natürlich literarisch inspiriert: Geiger war ein geradezu fanatischer Leser, und im Fach der Seefahrer-Literatur kannte er sich aus wie wohl kaum ein anderer in diesem Raum, nicht umsonst stand der „Moby Dick“ auf seinem inneren Hausaltar. Dagegen spielte die Musik keine tragende Rolle in seinem Leben, aber seine Bewunderung für Bob Dylans Musik und Texte blieb zeitlebens ungebrochen.
Geiger ermunterte Menschen nicht gerade dazu, in ihm auch eine andere Seite zu vermuten als die des hartgesottenen, äußerst streitbaren, ideologisch motivierten Kämpfers. Man musste schon einen besonderen Draht zu ihm haben, um hinter seinen Worten auch Mitgefühl und Verständnis für die privaten Nöte seiner Mitmenschen zu spüren. Wollte ich aber mal einen Liebeskummer herausheulen, war er bei aller Freundschaft auch in jungen Jahren schon der falsche Ansprechpartner. Er gab sich den Unwägbarkeiten des Lebens gegenüber immer höchst abgeklärt und krempelte nach eigenen Rückschlägen sehr schnell wieder die inneren Ärmel hoch.
Auch dass ich ihn in diesem Sommer im Krankenhaus besuchte, schien ihn zwar nicht zu stören, aber doch ein wenig zu verwundern. Solche – je nach Sichtweise – freundschaftlichen Gefühlsregungen oder bürgerlichen Konventionen waren seine Sache wahrlich nicht. Wir gratulierten uns auch über 40 Jahre lang nicht zum Geburtstag.
Er pflegte eine Antibürgerlichkeit, die ihn nicht daran hinderte, die schwäbische Küche immer wieder überschwänglich zu preisen und regelmäßig Linsen mit Spätzle oder auch einen Zwiebelrostbraten zuzubereiten. Ein rheinischer Sauerbraten hingegen kam ihm nicht auf den Tisch, denn an den gehören Zibeben, und die konnte er nun wirklich noch weniger ausstehen als den Trotzkismus.
Lessing schrieb am 10. Januar 1778 an seinen Freund Eschenburg, dass seine Frau und sein Kind im Kindbett gestorben seien. Er fährt in einer der anrührendsten Stellen der deutschen Briefliteratur sinngemäß fort: „Diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Ich freue mich, dass ich nicht mehr viele neue Erfahrungen dieser Art machen kann; und bin ganz leicht.“
Diese Leichtigkeit, von der Lessing schreibt, fehlt mir in den Wochen seit Geigers – mit 64 Jahren sehr frühem – Tod völlig.
Aber ich hoffe wie Lessing und wünsche jedem von uns, dass uns viele Erfahrungen wie die des Todes eines derart guten Freundes und Genossen nicht mehr zu machen übrigbleiben. Mich macht sein Tod nicht leicht, sondern mir ist verdammt schwer ums Herz.
Vielen Dank.
Harald Borges