Altern in Würde? Ein verdrängtes Thema?

Die Liga des „Arbeitskreises Armut“ hatte zu Aktionen und Diskussionsbeiträgen zum Thema „Altern in Würde?“ auf den Heinrich-Weber-Platz in Singen geladen. Gekommen waren leider viel zu wenige. Dabei hätte es sich durchaus gelohnt, die teils sehr unter­schiedlichen Positionen der RednerInnen (MdL Dorothea Wehinger, Grüner; Kreis­seniorenrat Dr. Bernd Eberwein; MdB Andreas Jung, CDU; DGB-Kreisverbandmitglied Klaus Mühlherr und Bürgermeisterin Ute Seifried) zu hören.

„An einem so schönen Tag wie heute, bei herrlichsten Wetter, sagt man sich ja, die Welt ist okay, uns geht’s gut, alles super. Dann muss natürlich die Frage kommen: ‚Wirklich alles super?‘“ Mit diesen Worten begrüßte Reinhard Zedler, Geschäftsführer des AWO-Kreisverbandes Konstanz und Vorsitzender der Liga der freien Wohlfahrtsverbände, die sehr überschaubare Zahl der Anwesenden. „Eigentlich müssten hier ganz viele 40 und 50-jährige sitzen, und 30-jährige, denn für sie ist das ein viel größeres Problem. …Teilzeitjob, zu schlecht bezahlter Arbeitsplatz, viele merken heute, dass die Rente eines Tages nicht reichen wird.“

Und dies bestätigen auch aktuelle Zahlen und Wissenschaftsberichte: 2036 werde jeder fünfte 67-jährige von Altersarmut betroffen sein (so eine Studie der Wirtschaftsforschungsinstitute DIW und ZEW im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung). Und laut Sozialbericht des Landkreises Konstanz ist in den letzten sieben Jahren die Altersarmutsrate um fast 30 Prozent gestiegen (von 1373 EmpfängerInnen von Grundsicherung im Jahr 2011 Alter auf 2407 anno 2017). Zedler nannte kurz die gemeinsamen grundlegenden Forderungen der Sozialverbände, Gewerkschaften sowie zivilgesellschaftlichen und kirchlichen Organisationen an die Politik: Die Stabilisierung der gesetzlichen Rente über 2030 hinaus, Rentensatz von mindestens 50 Prozent; die Finanzierung der beschlossenen Mütterrente aus Steuermitteln statt aus Rentenbeiträgen und eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung.

Spielszenen: Alt, krank und arm

Dass Armut, die durch zu geringe Rente, durch Krankheit und/oder Pflegebedürftigkeit entsteht, Scham und Angst aufkommen lässt und dadurch vielfach Vereinsamung und Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben mit Verlust von Lebensqualität nach sich zieht, zeigten anschließend eindrückliche Pantomime-Szenen, gespielt vom dox-Maskentheater unter Leitung von Walter Koch: Da waren zum Beispiel die einsame Frau an der Bushaltestelle, der das Geld für die Fahrkarte fehlt, das vor einem Konzertplakat stehende betagte Paar, das bedauert, dass seine Rente nicht für die Eintrittskarten reicht oder die gebrechlichen Alten unter sich, die sich an längst vergangene bessere Zeiten erinnern und ausgelassen tanzen („Come on let’s twist again, like we did last summer“), bis eine Pflegerin sie wieder in die Realität zurückholt.

Die wichtigsten Positionen der im Anschluss an diese mahnende Performance folgenden fünf geladenen RednerInnen seien hier wiedergegeben.

Mehr Einsatz für echte Solidarität

Dr. Bernd Eberwein, Vorsitzender des Kreisseniorenrates Konstanz, nannte es „Rentenkosmetik“, was in den Koalitionsverhandlungen vereinbart worden sei und nun als „großer Wurf“ verkauft werde. „Versprechungen wie ‚die Rente dürfte nicht unter einem bestimmten Prozentsatz fallen und die Beiträge nicht über einen bestimmten Prozentsatz steigen‘, sind Augenwischerei.“ Fakt sei, dass die Geringverdiener die Last der Rentenversicherung trügen. Wie anschließend auch Klaus Mühlherr forderte er „eine ehrliche und solidarische Erhebung der Beiträge, sprich, eine Pflicht zur Beitragserfassung auch für Gutverdienende, wie zum Beispiel in Österreich und der Schweiz, und auch für alle Berufsgruppen … Ändern Sie das System, kehren Sie zurück zu einer wahrhaften Solidarität! Mir geht es bei diesem Appell nicht nur um die heutigen Senioren, sondern mir geht es um unsere Kinder und Enkel“, so seine abschließenden, vor allem an Bundestagsmitglied Andreas Jung gerichteten Worte.

„Es reicht nicht, über die Höhe des Baukindergeldes zu reden – eine verfehlte Bodenpolitik ist die Ursache; es reicht halt nicht, über Migration zu reden – Rassismus ist das tiefer liegende Problem; es reicht halt nicht, auf Generationengerechtigkeit hinzuweisen, Alte gegen Junge aufzuhetzen, sondern wir brauchen einen ordentlichen Arbeitsmarkt“ … nur so könne man sich einem „hoffentlich solidarischen System nähern“, machte Klaus Mühlherr seinen Standpunkt klar. In den letzten 30 Jahren sei das Motto der Rentenpolitik „kürzen, kürzen, kürzen“ gewesen. Mühlherr kritisierte den zu niedrigen Rentenbeitragssatz von 18,5 Prozent, von dem vor allem die Arbeitgeber profitieren würden. Es stimme nicht, dass die Jungen keinen höheren Beitrag zahlen wollen, das habe unter anderem eine Umfrage bei IG-Metall-Mitgliedern ergeben. Auch forderte er, dass Beamte – u. a. auch Lehrer, wie er selbst – in die gesetzliche Rentenkasse einzahlen sollen.

Grüne gute Ratschläge zur Alltagsbewältigung

Als Mitglied im Sozialausschuss stellte sich Singens grüne Landtagsabgeordnete Dorothea Wehinger vor. Dort stünde das „Thema alte Menschen ganz obenan“. … „Selbstständig bleiben, solange es möglich ist … und nur Hilfsangebote in Anspruch nehmen, wenn nötig“, dies wolle die grün-schwarze Landesregierung unterstützen. Möglichkeiten der Kurzzeitpflege, Pflege durch Angehörige und ein Programm zu deren Unterstützungen seien Schwerpunkte der Arbeit des Ausschusses. Auf die eigentlichen Fragen der Altersarmut ging sie gar nicht erst ein, denn Rentenpolitik sei Sache des Bundes. Altern in Würde bedeutet für sie konkret, „ … dass die Menschen teilhaben können, aber das heißt auch, die alten Menschen müssen selber etwas dafür tun. Da heißt ich muss rausgehen, muss vom Sofa aufstehen, muss auf den Knopf drücken, nämlich den Fernseher ausmachen, muss sagen, so jetzt gehe ich unter Leute, ich möchte in den Singkreis gehen, ich möchte zum Tanzen gehen …“ Und weiter: „Gesund zu bleiben, ist zuerst mal nicht die Aufgabe des Staates, sondern jeder Mensch hat Verantwortung für sich selber, und jeder Mensch sollte sich für so wichtig erachten, dass er sich sagt, ich tue mein Bestmöglichstes …“

Care-Maßnahmen der Stadt

Bürgermeisterin Ute Seifried stellte die verschiedenen Programme der Stadt Singen vor, wie den Sozialpass für EmpfängerInnen von Hartz IV, Sozialhilfe, Grundsicherung und die finanzielle Unterstützung durch Zuschüsse für Seniorengruppen, um so gesellschaftliche Teilhabe zu verbessern.

Die Rentenkommission soll’s richten

„Wir sind ein reiches Land, aber in diesem reichen Land gibt es eben auch Armut. Das ist ein Widerspruch, der uns nicht ruhen lassen darf, deshalb ist es notwendig, dass wir nicht nur das Thema, sondern auch die Menschen, die davon betroffen sind, in den Mittelpunkt rücken. Es geht um gesellschaftlichen Zusammenhalt …“, räumte dagegen Bundestagsmitglied Andreas Jung ein. Routiniert frei gesprochen, schloss sein Redebeitrag die Veranstaltung ab. Die vernommene Kritik wolle er als Ansporn mit nach Berlin nehmen. Fragen zur Rente nehme er sehr ernst und verwies auf die von Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil eingesetzte Rentenkommission (korrekt: „Kommission Verlässlicher Generationenvertrag“), die bis 2020 ein Konzept für das Rentensystem ab 2025 entwickeln soll. CDU-Kommissionsmitglied Hermann Gröhe (in der letzten Legislaturperiode Gesundheitsminister) habe er deshalb schon zu einer Veranstaltung nach Singen eingeladen. Und: Nirgendwo sei gekürzt oder zusammengestrichen worden, im Gegenteil, der Steueranteil in der Rente sei immer weiter erhöht worden, so seine Replik auf die Kritik von Klaus Mühlherr. Nicht überraschend für einen CDU-Politiker auch der Hinweis, dass das Rentensystem unter Druck stehe und schuld daran hauptsächlich die (heute auf dem Kopf stehende) Alterspyramide sei. Sein abschließendes Eingeständnis, dass die Rentenproblematik im Wahlkampf bei allen Parteien, also auch seiner, zu wenig Raum erhalten habe, dürfte kaum auf Widerspruch stoßen.

Wem hilft diese Politik weiter?

Hilft der Hinweis, jeder sei seines Glückes oder – hier treffender – seines Alters Schmied den bereits Ausgegrenzten wirklich? Reichen die Maßnahmen des Sich-Kümmerns aus, um den sozialen Kahlschlag auszugleichen? Helfen immer weitere Kommissionen nicht in erster Linie den Kommissionsmitgliedern? Erinnern wir uns: 2003 hatte die „Rürup-Kommission“ mit ihrem Konzept für die Privatisierung der Alterssicherung und damit für eine fatale Schwächung der gesetzlichen Rente gesorgt.

Und dass es gar noch schlimmer kommen könnte, dafür spricht schon die Berufung von Professor Axel Börsch-Supan in die neue Kommission: Direktor des auf Initiative des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft gegründeten Munich Center for the Economics of Aging, Mitglied der Bertelsmann-Stiftung, einst Mitglied der bei der Entsolidarisierung der Rentenversicherung so erfolgreichen Rürup-Kommission, Lobbyist der Versicherungswirtschaft und Verfechter weiterer Privatisierung der Altersvorsorge, der Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 69 plus und Absenkung des Rentenniveaus … PolitikerInnen der Opposition und die Sozialverbände sind übrigens von der Kommission ausgeschlossen. Umso mehr sollten also Lohn- und GehaltsempfängerInnen ohne Großgrundbesitz oder entsprechenden Anteilen an Konzernen das Wirken dieser Rentenkommission verfolgen.

… denn die Armen sieht man nicht

Angesichts des äußerst geringen Interesses an der Veranstaltung kommt man um die Frage nach den Ursachen nicht herum: War es nur das schöne Wetter oder hält man sich nicht für betroffen, weil die ständige Propaganda vom reichen Land, in welchem Vollbeschäftigung herrscht, in welchem es allen gut geht, ihre Wirkung zeigt? Wirkt der darin enthaltene Vorwurf – wenn es in Deutschland jemandem nicht so gut gehe, habe diese/r nur ihre/seine individuellen Chancen nicht richtig genutzt, sei also selbst schuld – schon so gut, dass sich jene, die bereits von der Teilhabe an materiellem und gesellschaftlichem Wohlstand ausgeschlossen wurden, also jene, die diese Propaganda entlarven könnten, sich schon gar nicht mehr der Verachtung der „großen Mehrheit“ aussetzen wollen?

Wollen sich jene verächtlich Gemachten, wie von der Theatergruppe dargestellt, am liebsten nur versteckt hinter Masken und damit unerkannt in unserer vorgeblich so solidarischen Gesellschaft bewegen?

Fritz Murr (Foto: Dieter Heise)