Anastasia-Bewegung: Reaktionäre Sehnsüchte

WeizenfeldIm deutschen Südwesten breitet sich eine reaktionäre Siedlungsbewegung aus. Ihr Weltbild ist durch völkische Esoterik gekennzeichnet. Es klingt nach einem mittelguten Fantasy-Roman: Eine jahrhundertealte Kindfrau aus den Weiten der Taiga verkündet einem Auserwählten tiefere Weisheiten. Sie bestehen unter anderem darin, ein autarkes Landleben und Subsistenzwirtschaft in Form sogenannter Familienlandsitze zu führen.

Die Idee vom Rückzug auf das Land ist nicht neu. Im Rahmen der sogenannten Lebensreform-Bewegung wurden solche Konzepte seit den 1890er-Jahren propagiert. Es ging vor allem um eine Flucht vor den Zumutungen der Industrialisierung, der Moderne und der frühen Globalisierung. Oft gewürzt mit einer ordentlichen Portion Romantik wie beim Wandervogel, der ersten deutschen Jugendbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts. Bertolt Brecht schrieb einst treffend: „Die Schwärmerei für die Natur kommt von der Unbewohnbarkeit der Städte.“ In gewisser Weise handelt es sich bei den Lebensreform-Bewegungen um Krisen-Erscheinungen.

Anfang der 2000er-Jahre kam die Anastasia-Bewegung aus Russland nach Deutschland und verbreitete sich vor allem in der russlanddeutschen Community. Sie geht auf den Schriftsteller Wladimir Dusakow zurück, der unter dem Pseudonym „Wladimir Megre“ ab 1996 die Roman-Reihe „Anastasia – Tochter der Taiga“ veröffentlichte. Von 1995 bis 2010 erschienen zehn Bücher, die von vielen Leser:innen als wahre Begebenheiten und Gebrauchsanweisungen verstanden werden

Die ganze Anastasia-Bewegung als extrem rechts einzuordnen wäre zu einfach. Allerdings können der Versuch, auf globale Herausforderungen durch die Abschottung in der Kleinfamilie zu reagieren, auf jeden Fall als reaktionär und die irrationalen Vorstellungen der Bewegung als rechte Esoterik eingeordnet werden. Ein geschlossen extrem rechtes Weltbild im klassischen Sinne stellt die Anastasia-Ideologie nicht zwingend dar. Völkische Versatzstücke allerdings – wie der dort praktizierte Ahnenkult, Antifeminismus oder antisemitische Weltverschwörungs-Vorstellungen – sind dankbare Anknüpfungspunkte für extrem rechte Ideologie. Ein seit Jahrzehnten in (West-)Deutschland bestehendes traditionell völkisches Netzwerk hat sich deswegen in den letzten Jahren zum Teil mit der Anastasia-Bewegung vermischt. Dass diese einer Variante des russischen Nationalismus entspringt, wird dabei ignoriert.

Synergie und Kooperation sind auch bei Personen aus Baden-Württemberg zu beobachten. Sonnhild Sawallisch aus Ingelfingen beispielsweise war nicht nur bei flüchtlingsfeindlichen Protesten der Bürgerinitiative „Hohenlohe wacht auf“ aktiv. Sie ist auch Funktionärin bei dem völkischen „Bund für Gotterkenntnis (Ludendorff)“, der im Landkreis Schwäbisch Hall ein altes Bauernhaus besitzt. Die sogenannten Ludendorffer beziehen sich auf die antisemitischen und völkischen Schriften der Mathilde von Ludendorff (1877 bis 1966). Seit November 2019 ist Sawallisch Geschäftsführerin des Lühe-Verlags, einem der Hausverlage der Ludendorffer. Sie macht auch gerne Musik. Mit ihrem Mann Diethard spielte sie in der Kapelle „Hohenloher Danzmusi“, die 2015 beim Anastasiafestival Deutschland in Grabow auftrat.

Für die Verbindungen zur extrem rechten Szene gab es in den vergangenen Jahren viel mediale Kritik. Inzwischen sprechen die Anastasia-Jünger lieber von „Familiensiedlung“ und „Freien natürlichen Ökodörfern“ oder sie beziehen sich auf verwandte Konzept wie „Das neue Dorf“ von Ralf Otterpohl, Professor an der Technischen Universität Hamburg, der an Chemtrails glaubt und Anastasia nahesteht.

In absoluten Zahlen sind die etwa 20 Familiensiedlungen, die es in der Bundesrepublik geben soll, nicht sonderlich beeindruckend. Doch die Mitgliederzahl der Online-Fan-Gemeinde auf Telegram geht in die Zehntausende.

Siedeln vom Südwesten gen Osten

Ein Anastasia-Anhänger aus Baden-Württemberg ist Reinhold G. aus Hohberg-Hofweier. Der Handelsfachwirt ist am Pilotprojekt „Mehrgenerationensiedlung“ beteiligt. Zur Bundestagswahl 2017 kandidierte er für die verschwörungsideologische Kleinstpartei „Deutsche Mitte“ auf der Landesliste auf Platz sechs. Das Konto des zur Mehrgenerationensiedlung gehörenden „Fördervereins zum bewussten Umgang mit Mensch und Umwelt e.V.“ wird auch von „Druschba Global“ verwendet, bei der auch G. aktiv ist und die sich die Versöhnung mit Putins Russland auf die Fahnen geschrieben haben. Bei Druschba engagierte sich auch der AfD-Funktionär Rainer Rothfuß aus Bayern, der inzwischen in den Bundestag nachgerückt ist.

In Sachsen haben Anastasia-Anhänger:innen das Schloss Ober-Neundorf bei Görlitz erworben. Dem Vorstand des zugehörigen Vereins „Schloss Ober-Neundorf“ gehört die Heilpraktikerin Simone Kuhn aus Tettnang im Bodenseekreis an, ihr Mann, der Kies-Unternehmer Dietrich Kuhn, ist ebenfalls beteiligt. Ihre Namen tauchen auch unter der rassistischen „Erklärung 2018“ auf, die eine „Beschädigung Deutschlands“ durch „illegale Masseneinwanderung“ verhindern wollte.

Ein Familienlandsitz in Baden-Württemberg wird von Urs Gassmann in Albbruck in der Nähe von Waldshut geführt. Gassmann richtete 2012 ein regionales Anastasia-Treffen aus.

In Isny lebt seit 1988 auf einem Hof der bekannte Ethnobotaniker und Ethnologe Wolf Dieter Storl. Er betreibt eine „Storl-Akademie“, ist Impfgegner, Klimawandel-Leugner und Anastasia-Fan. Für den Rottenburger Kopp-Verlag trat er 2016 in der Stadthalle in Fürth als Referent auf einem Kongress zum Thema „Perfekte Krisenvorsorge“ auf. Dem neurechten Magazin „Anbruch“ stand er 2020 und 2021 für zwei Interviews zur Verfügung.

Die Filmproduktions-Firma „L.O.V.E. Productions“, was für „Living Oneness – Vast Evolution“ („Gelebte Einheit, Unermessliche Evolution“) steht, bewirbt die Anastasia-Familiensiedlungen mit Filmen wie „Russische Ökodörfer und Familienlandsitz-Siedlungen“. Die Firma gehört Regisseur Stefan Wolf und hat ihren Sitz in Pforzheim. Während der Corona-Krise veröffentlichte L.O.V.E. Productions im zugehörigen Blog die Behauptung, das Virus sei nicht wissenschaftlich nachweisbar. Im Online-Shop gibt es unter anderem ein „Beratungsgespräch mit Stefan über Familienlandsitze, Gemeinschaftsfindung und Co.“ für 90 Euro oder die DVD „Ein Neues Wir – Ökologische Gemeinschaften und Ökodörfer in Europa“.

Die Russland-Schwärmerei mancher Anastasia-Siedler:innen geht so weit, dass sie nach Russland auswandern. Sonja Bergfeld will dort angeblich die „Altpreußische Gemeinde Bergfeld“ gegründet haben. Ein Video-Clip von 2021 zeigt allerdings nur eine kleine Gebäude-Ansammlung. Das Impressum der zugehörigen Internet-Präsenz wird von Manuela P. aus Stuttgart verantwortet.

Besonders in der Esoterik konnte der Anastasia-Siedlungsgedanke gut andocken. Das esoterische „Elixier“-Magazin „für Baden-Württemberg“ widmete dem Thema seine Ausgabe 34 vom Mai/Juni 2016. Der Magazin-Herausgeber Bernd Schwender schrieb in seinem Editorial: „Längst hat sich die Politik nicht nur in diesem Land energetisch weit vom Volk getrennt, die Eigeninteressen, die der Konzerne und der Hochfinanz dominieren bei Weitem und Ethik ist nur noch eine Farce. (…) Wir sind es, die zusammenstehen müssen, wir sind es, die sich der zunehmenden Macht und Kontrolle bewusst entziehen, die autark werden und sich untereinander austauschen und vernetzen sollten, wo immer es möglich ist.“ Dass solche Vorstellungen ein paar Jahre später in den verschwörungsideologischen Corona-Protesten kulminierten, wundert kaum.

Rechte Esoterik macht Schule

Die Szene der Anastasia-Fans überschneidet sich auch mit der Szene der Schulverweigerer. In Anastasia-Fankreisen wird mit den Tekos- oder Schetinin-Schulen ein eigenes Bildungskonzept propagiert. Der Musiklehrer Michail Petrowitsch Schetinin (1944-2019) war Gründer einer Schule mit zugehörigem Internat im südrussischen Tekos in der Region Krasnodar am Schwarzen Meer, die aber von den Behörden 2019 wegen Mängeln geschlossen wurde. Die Schule wird in der Anastasia-Roman-Reihe von Megre als Vorbild beschrieben. Schetinin war – wie Megre – Putin-Sympathisant, eine Haltung, die auch auf die Bewegung in Deutschland abgefärbt hat.

Das Konzept wirkt in seiner Darstellung wie die Wundermittel, die früher auf den Marktplätzen angeboten wurden und alles heilen sollten. Angeblich kann die Schetinin-Pädagogik durch Wiederholung in wenigen Wochen den Stoff von Jahren vermitteln. Statt Lehrer:innen gibt es „Lernbegleiter“, eine Unterscheidung der Schüler:innen nach Alter gibt es nicht, dafür werden sie nach Geschlechtern getrennt unterrichtet.

Auch ein „kraftvolles Körpertraining auf der Grundlage des russischen Nahkampfes“ gehört dazu. Im Internat in Tekos begann der Tag um fünf Uhr morgens und endete um 21.30 Uhr. Auf der mit Schetinin sympathisierenden Homepage „Spiel und lern“ heißt es zum Programm in Tekos: „Den Schülern wird hierbei der Nationalstolz für Russland vermittelt. Dieses hat der Schetinin-Schule auch einige Kritik eingebracht.“ Das hört sich eher nach paramilitärischer Ausbildung als nach neuer befreiter Bildung an.

Mit der Maskenpflicht an den Schulen hielten Pandemie-Leugner:innen nach Alternativen zu staatlichen Schulen Ausschau. Laut SWR vom 31. März 2022 gab es 30 schulähnliche Gruppen in Baden-Württemberg, die versuchten, die Schulpflicht zu unterlaufen. Reichsbürger-Gruppen wie das „Königreich Deutschland“ um Peter Fitzek scheinen beim Konzept von Schetinin fündig geworden zu sein. Richard Kandlin aus St. Leon-Rot bewirbt seit 2014 die „Schetinin-Schule“ und war 2015 Referent für das „Königreich Deutschland“. Angeblich hat er selbst vier Jahre lang die Tekos-Schule in Russland besucht. Sein neuer Verein heißt „Kiep – Kinder entwickelte Pädagogik“ und hat seinen Sitz in St. Leon-Rot im Rhein-Neckar-Kreis. Wer sich zum Kiep-Lernbegleiter ausbilden lassen will, besucht Seminare bei Richard Kandlin.

Die Schetinin-Pädagogik wird auch von der „Internationalen Schul-, Sport- und Kultur-Akademie“ (ISKA) mit Postfach im oberbayrischen Weilheim verbreitet. Seit 2021 auch in Baden-Württemberg: etwa in Form von Familienseminaren, Kindercamps, Jugend-Tagesseminaren oder sogenannten Bildungsforschungstagen „nach M. P. Schetinin“. Als Orte werden auf der Homepage „der Raum Freiburg“, der „Raum Freudenstadt“, der „Raum Heidelberg“, der „Raum Heilbronn“ oder im „Raum Sulz am Neckar“ aufgeführt. Zuletzt war für den „Raum Offenburg“ vom 10. bis 15. April 2023 ein Familienseminar angekündigt.

Auch bei ISKA ist die Verbindung zu traditionell völkischen Gruppen offenbar nicht fern. Laut der Rechtsextremismus-Expertin Andrea Röpke fand ein „ISKA Bildungsforschungstag“ im „Raum Uelzen“ schlussendlich auf dem Hof einer Familie des völkisch-bündischen „Sturmvogel – Deutscher Jugendbund“ in Masendorf statt.

Für die Anastasia-Bewegung wirkten die Corona-Proteste wie ein Booster. Vor allem nach dem offenkundigen Scheitern der Bewegung auf der Straße sieht sich der Kern der Bewegung nach Alternativen um, um sich dem Zugriff des Staates zu entziehen. Manche wandern aus, andere versuchen sich in die Autarkie zu flüchten. Reichsbürger- oder Anastasia-Ideen stellen vermeintliche Alternativen zu dem Leben in liberalen Demokratien dar. Dabei sind die Gründe für diese Flucht nicht alle verwerflich, aber Abschottung und Rückzug in vereinzelte Siedlungen sind kein gesellschaftliches Lösungskonzept. Den großen Herausforderungen der Zukunft kann die Gesellschaft nur gemeinsam und solidarisch begegnen.

Text: Lucius Teidelbaum. Sein Beitrag erschien zuerst auf: www.kontextwochenzeitung.de
Symbolbild: Pixabay