Appenzell: Angst vor dem Auszug der Jungen
Im Standortwettbewerb zwischen Kantonen und Gemeinden der Schweiz hat Appenzell bislang die Nase vorn. Doch die Steueranreize, vornehmlich von reichen Ausländern genutzt, haben auch Nachteile: Junge Familien können sich das Leben in Innerrhoden nicht mehr leisten und ziehen weg – eine Zustandsbeschreibung des Appenzellers Harry Rosenbaum.
Vom Sammelplatz mit der roten Schmalspurbahn in den Kessel von Appenzell hinabzufahren, ist ein bisschen wie mit einem Flugzeug landen. Man blickt auf den Innerrhoder Hauptort, während der Zug mit propellerhaftem Brummen die lange Schienenschlaufe zum Bahnhof zieht.
Die erwartete Beiz am Ende der Geleiseunterführung ist keine, sondern ein apartes Geschäftshaus mit bunten Firmentafeln. Hier residieren Baumüller Schweiz AG, Kleo AG, Popsite AG, Manara AG, Khattana Schweiz AG und Accurat Immobilien AG. Das riecht förmlich nach Steuerparadies. Warum sonst würden diese Unternehmen der Telekommunikationsbranche, des Managements und Consultings im Bauwesen, der Verwaltung und Finanzierung von Beteiligungen aller Art gerade hierher, an den Rand des Alpsteins ziehen?
Grundstückspreise explodieren
„Sönd Willkomm“ Vor vier Jahren hat die Landgemeinde als Standortoffensive für den Kanton Appenzell Innerrhoden ein Steuergesetz beschlossen, das aufstrebende Firmen und reiche Privatpersonen durch speziell niedere Abgaben auf Unternehmensgewinne und Vermögen ins Land locken soll. Die Rechnung ist aufgegangen; prosperierende Unternehmen und wohlhabende Leute aus dem In- und Ausland haben von dem Angebot Gebrauch gemacht. Die kommende Landgemeinde, die das stimmberechtigte Volk und seine Obrigkeit zur Erledigung der politischen Geschäfte des Kantons immer am letzten Sonntag im April unter freiem Himmel versammelt, soll nun ein weiteres Herunterfahren der fiskalischen Abgaben beschließen, damit Appenzell Innerrhoden weiterhin die Nase vorn behält im interkantonalen Steuerwettbewerb.
Die Geschichte – wie sich jetzt zeigt – hat aber nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile. Das sieht der Reisende schon, wenn er mit dem Zug auf der „Landeschlaufe“ zum Bahnhof fährt. Kräne stehen am Ortsrand und neue, großzügig bis auffällig mondän gebaute Einfamilienhäuser ragen von den bevorzugten Südhängen mit großen Glasfronten hinein in die Bergwelt. Die Bautätigkeit ist überhitzt, die Wohnkosten sind rasant gestiegen und die Bodenpreise förmlich explodiert.
Eine junge Mutter, die einen Kinderwagen schiebt und ein kleines Mädchen an der Hand führt, sagt: „Mein Mann und ich sind seit längerem auf der Suche nach einem kleinen Platz für den Bau eines bescheidenen Hauses, nicht an exponierter Lage; einfach nur in Dorfnähe. Wir haben es inzwischen aufgegeben und ziehen weg. Die Bodenpreise in Appenzell kann unsereins schlicht nicht bezahlen.“
Beim Grundbuchamt in Appenzell spricht man von aktuellen Quadratmeterpreisen zwischen 500 und 780 Franken. In einer Beiz sagt ein Mann, der nicht mit seinem Namen in der Zeitung stehen will: „Das ist stark untertrieben. An guter Lagen werden pro Quadratmeter bis zu 1000 Franken verlangt.“
Niklaus Fritsche von der Gruppe „Appenzellisches Baugesetz“ sieht in den tiefen Steuern einen der Gründe, warum die Bautätigkeit aus dem Ruder läuft. „Ein weiterer Faktor ist die Bevölkerungspolitik. Nach Plan sollen im Kanton demnächst 20000 Menschen leben, damit ein größeres Steueraufkommen das ausgleichen kann, was durch das Herunterfahren der Abgaben verloren geht. Heute sind rund 15000 Menschen in Innerrhoden ansässig. Eine Zunahme der Bevölkerung, wie sie geplant ist, kann aber nicht verkraftet werden.“
„Konzeptloser Siedlungsbrei“
Der Kanton stehe vor einer wichtigen Weichenstellung, sagen die links-grüne Opposition „Gruppe für Innerrhoden GFI“ und die Gruppe „Appenzellisches Baugesetz“. Momentan breite sich ein konzeptlos wirkender Siedlungsbrei aus, ohne Bezug zu der typischen appenzellischen Landschaft. Bauten in spezifischer Innerrhoder Art vermischten sich mit Villen in mediterranem Stil, Glaspalästen und Mehrfamilienhäusern wie in den Agglomerationen der Städte.
Das Kantonsparlament hat nur murrend der zweiten Teilrevision des Steuergesetzes zugestimmt; schon fast zwangsneurotisch. Landammann und Ständerat Carlo Schmid hat nämlich den Männern und Frauen vom Großen Rat gesagt, dass Innerrhoden jetzt nicht einfach vom Steuerkarussell abspringen könne, ohne sich dabei die Knochen zu brechen. Finanzdirektor Sepp Moser meinte, dass mit der künftigen kantonalen Steuerpolitik die Finanzen im Lot behalten werden könnten und kein Ausverkauf innerrhodischer Werte stattfände. Und Volkswirtschaftsdirektor Daniel Fässler, ein eher ungebremster Befürworter der Vorlage, zählt auf die Krisenresistenz seines Kantons. Er sieht in der zweiten Steuerverbilligungs-Tranche keine Gefahr, sondern eine Chance für Innerrhoden.
In einem Resümee am Ende des letzten Jahres in den Regionalmedien meinte er, dass die globale Finanz- und Wirtschaftskrise in Appenzell Innerrhoden gar nie so richtig angekommen sei und somit auch keinen großen Schaden anrichten könne. Die Wirtschaftsstrukturen im Kanton seien eben immer noch weitgehend gewerblich geprägt und regional ausgerichtet. So seien Übertreibungen in Zeiten der Hochkonjunktur gar nicht möglich.
Im kleinen Bergkanton mit der kaum gebeutelten Wirtschaft ticken die Uhren möglicherweise anders. Vielleicht kommt es auch daher, dass die Obrigkeit im Halbamt regiert und zur anderen Hälfte selber ein Teil der Wirtschaft und des Gewerbes ist. „Staatshilfe“ für die Wirtschaft versteht der Volkswirtschaftsdirektor nicht als Konjunkturförderung, sondern als Vertrauenssache zwischen Politik und Unternehmertum.
Erstmals Defizit
In den letzten 20 Jahren hat sich Innerrhoden vom notorisch finanzschwachen zu einem wohl situierten Kanton entwickelt. Jetzt kommt aber ein Dämpfer: Erstmals seit zehn Jahren präsentiert der Voranschlag für die Staatsrechnung ein Defizit. Für 2010 beträgt es 4,5 Millionen Franken. Für 2009 konnte noch ein Plus von einer Million Franken budgetiert werden. Wegen der global schlechteren Wirtschaftslage wird mit Steuerausfällen von fünf Prozent oder 1,3 Millionen Franken gerechnet. Total sinken die Erträge im Vergleich zum Vorjahr um 2,2 bis 3 Millionen auf 131,8 Millionen Franken. Demgegenüber steigt der Aufwand um 1,9 Prozent oder um 2,6 Millionen auf 136.3 Millionen Franken. Um das ein wenig aufzufangen, gibt es für das Staatspersonal eine Nullrunde bei den Löhnen, gleichzeitig werden die Gelder für die Verbilligung der Krankenkassenprämien gekürzt.
Der flächenmäßig zweitkleinste und in punkto Bevölkerung sogar kleinste Kanton der Schweiz wird nicht wieder wie früher mit der Subventionsbüchse betteln gehen müssen. Die Liquidität liegt zur Zeit bei fast 30 Millionen und das Eigenkapital bei 47 Millionen Franken. Für die kommenden Jahre stehen jedoch massive öffentliche Ausgaben an, die empfindliche Löcher reißen: 80 Millionen für den Ausbau des Spitals, 12,5 Millionen für die Sanierung des Gymnasiums und schätzungsweise zehn Millionen Franken für den Um- oder Neubau des Hallenbades. Ferner muss die Durchfahrt durch Appenzell verkehrstechnisch neu gelöst werden, möglicherweise mit dem Bau eines Tunnels.
Innerrhoden vorne
Laut einer Untersuchung der Credit Suisse ist Appenzell Innerrhoden gegenwärtig in Sachen „Standort-Güte“ am attraktivsten. Dabei werden unter den Kantonen Vergleiche gezogen, wie stark die Haushalte durch Zwangsabgaben (Steuern) und Fixkosten (Wohnen, Sozialversicherungs- und Krankenkassenprämien) belastet sind. Auch in diesem Ranking will Innerrhoden ganz vorne bleiben. Durch die erneute Steuersenkung, die bei einem Ja der Landgemeinde 2011 in Kraft tritt, ergeben sich jährliche Mindereinnahmen von 2,6 Millionen Franken.
Martin Pfister, Präsident der GFI, sagt: „Intern sind wir gegen weitere Steuersenkungen und gegen den kantonalen Steuerwettbewerb. Schon vor vier Jahren fassten wir diesen Grundsatzentscheid. Die Basis hat aber anders entschieden und wir plädierten in der Landgemeinde 2006 für Rückweisung des Geschäftes, weil wir es nicht gänzlich ablehnen wollten. Damit sind wir aber gescheitert.“
Nach einer Untersuchung in allen Kantonen der Schweiz und 2900 Gemeinden stellte die Credit Suisse 2008 die Faustregel auf: Je tiefer die Steuern, desto teurer sind Wohneigentum und Mieten – 2006 seien in steuergünstigen Gemeinden wie Muri bei Bern und Zumikon an der Zürcher Goldküste die Wohnkosten stärker ins Gewicht gefallen als die Steuerersparnisse, heißt es in der Untersuchung. Und das trifft sich real mit der bitteren Aussage der jungen Mutter mit dem Kinderwagen und der kleinen Tochter an der Hand, die wegen der überzogenen Baulandpreise mit ihrer Familie aus Appenzell wegziehen muss. – Der Exodus der Jungen scheint bereits Tatsache zu sein.
Foto: clare_and_ben
AutorIn: Harry Rosenbaum