Armut droht allen, nicht nur in Singen

Eine in vielerlei Hinsicht beeindruckende Diskussion letzte Woche in Singen: Es gab Zahlen und Fakten zur Armut in Deutschland und es gab Abgeordnete, für die „Armut in Singen“ offenkundig kein Thema ist – Grüne und Freidemokraten stahlen sich aus der Verantwortung. Doch im Publikum regte sich unüberhörbar deutlicher Widerstand, weiß unsere Autorin in ihrem langen, fakten­reichen Beitrag zu berichten.

Mit Michael Hartmann – bis 2014 Soziologie-Professor an der Technischen Universität Darmstadt mit den Schwerpunkten Industrie- und Betriebssoziologie sowie Eliteforschung – war ein renommierter Referent für die Podiumsdiskussion „Vom Wohlstand ausgeschlossen“ eingeladen (im Foto links). Organisiert hatte diese Diskussion der „Arbeitskreis Armut“ der Wohlfahrtsverbände im Kreis Konstanz im Rahmen der Aktionswoche „Armut bedroht alle“. In Singen findet diese Veranstaltung alljährlich statt, weil hier die Zahl der Unterstützungsempfänger immer doppelt so hoch ist wie im übrigen Landkreis und in Konstanz. Gemeint sei nicht die bittere Armut, sondern es gehe um die Menschen, die gerade so über die Runden kämen, aber zum „Wohlfühlen“ oder zur Teilhabe am „Wohlstand“ fast keine Chance hätten, erklärte Uwe Engelhardt, Leiter des AK Armut und Vorsitzender der Singener Tafel e.V.: „2015 lebten 17,2% der Kinder unter 15 Jahren in Familien mit SGB 2. Nimmt man die Haushalte der Niedrigverdiener hinzu, so hat jedes 5. Kind in Singen schlechte Bildungs- und Startchancen“.

Weitere TeilnehmerInnen der Podiumsdiskussion waren: DGB Geschäftsführer der Region Südwürttemberg, Peter Fischer; die Landtagsabgeordneten Dorothea Wehinger (Bündnis 90/Die Grünen) und Jürgen Keck (FDP); die Bürgermeisterinnen Monika Laule aus Radolfzell und Ute Seifried aus Singen; Moderator Jörg Braun, Redaktionsleiter Südkurier Singen (im Foto rechts), der nach eigenem Bekunden in Absprache mit den Organisatoren nur „relativ harmlose Fragen“ mitgebracht hatte.

Kinderarmut: Singen über dem Durchschnitt

In seinem einleitenden Referat beeindruckte Michael Hartmann mit selbst recherchierten Zahlen zur Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland, die so von der allgemeinen Presse fast nie angesprochen würden. Die 500 Reichsten verfügen nach den aktuellsten Zahlen über ein Vermögen von knapp 700 Mrd. €, was einen neuen Rekord bedeutet und eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr um 6,9%. Die Kinderarmut beträgt durchschnittlich 15 % (d.h. Singen liegt leicht über dem Durchschnitt), wobei in Deutschland große regionale Unterschiede bestehen. Spitzenreiter sind Bremerhaven mit 40,5%, Gelsenkirchen mit 38,5%, Essen und Berlin mit jeweils ca. 32%. Auf der anderen Seite erben 90 Kinder Firmen im Umfang von 30 Mrd. €, durchschnittlich also 330 Mio. pro Kind.

Hartmann betonte, dass es zur Armutsprogression aber auch Gegenargumente gäbe: „Mit diesen muss man sich auseinandersetzen.“ Mit den drei gewichtigsten Argumenten, „die richtig und falsch zugleich sind“ setzte er sich zunächst auseinander:

1. Bei der Mehrwertsteuer zahlen die Armen drauf

Die 10 Prozent Reichsten zahlen 50% der Einkommenssteuer (Quelle Finanzministerium) – das stimme, aber sie vereinigen auch 40% der Einkommen auf sich. Die Einkommenssteuer sei damit zwar immer noch progressiv, aber nicht sehr deutlich. Außerdem sei immer nur die Rede von den direkten Steuern. Unerwähnt bleibe jedoch der andere ähnlich große Block der (indirekten) Mehrwertsteuer, die genau umgekehrt progressiv ist: „Die oberen 10 Prozent zahlen für Mehrwertsteuer rund 5% ihres Einkommens; die unteren 10 Prozent dagegen zahlen 15%. „Wenn man sein Geld anlegt, hat man mit Mehrwertsteuer nichts tun.“

2. Für Arme sind Konsumgüter teurer

Die großen Differenzen bezögen sich nur auf sog. Markteinkommen (Bruttoeinkommen), bei den real verfügbaren Einkommen sei die Differenz geringer. Hartmann: „Auch das ist richtig“. Bei den Markteinkommen liege Deutschland nach den USA und Großbritannien auf Platz 3. Bei den real verfügbaren Einkommen (nach Steuern und Sozialleistungen) liege Deutschland im oberen Mittelfeld, aber deutlich hinter den USA. „Unser Steuer- und Sozialsystem gleicht diese Unterschiede immer noch ein Stück weit aus“ – aber auch hier fehlten zwei Fakten, die dieses Argument relativieren: a) Betrachte man den Zeitraum ab 2000, sei bei den real verfügbaren Einkommen die Kluft schneller gestiegen als bei den Bruttoeinkommen und b) seien auch hier die indirekten Steuern nicht mit berücksichtigt. Untere Schichten müssten anteilsmäßig mehr für Konsumgüter ausgeben. Beispiel: die Abgeltungssteuer (25 % plus Soli auf Geldvermögenswerte, eine direkte Steuer) hat prozentual am gesamten Steuereinkommen einen halb so hohen Anteil wie die Tabaksteuer (eine indirekte Steuer).

3. Vermögen zählt mehr als Verdienst

Seit 2005 hat es keine großen Einkommensveränderungen mehr gegeben. Dies sei wiederum richtig und falsch zugleich. Bis zum Ende des Jahrtausends seien die Einkommens-Unterschiede kleiner geworden, aber seit 2000 stagniere diese Entwicklung, trotz Konjunktur und Reallohnsteigerung in den letzten drei Jahren. Die Unterschiede sollten also kleiner werden, sie werden es aber nicht.

Spannender als die Betrachtung des Einkommens sei jedoch der Blick auf die Verteilung des Vermögens: 17,4 Millionen habe Winterkorn (Ex-VW-Chef, Anm. d. Red.) in einem Jahr (2015) erhalten, 11 Millionen erhalte Daimler-Boss Zetsche (2016). Susanne Klatten und Stefan Quandt, die 47 % der BMW-Aktien halten, „kassieren jedes Jahr 400 Mio. Euro Dividende nur aus den BMW-Aktien.“ Vermögen spiele also eine weitaus größere Rolle als Verdienst.

In der Rangliste ungleicher Vermögensverteilung ist Deutschland immer unter den Top 3. Das oberste Prozent der Bevölkerung hat einen Vermögensanteil zwischen 33 und 37% (je nach Quelle), ähnlich ist es in der Schweiz, die USA mit 40% liegen darüber. Betrachtet man die 1000 reichsten Milliardäre (Quelle: Forbes) ergibt sich diese Rangfolge: 1. US-Amerikaner, ca. 300; 2. Chinesen, ca. 100; 3. Deutschland ca. 67. Verglichen mit Frankreich (23) und GB (33) und Japan (13) ist die Zahl in Deutschland unverhältnismäßig groß.

„Wir haben in Deutschland eine außergewöhnlich hohe Anzahl an Milliardären und eine hohe Konzentration von Vermögen“. Der wesentliche Grund dafür sei ein extrem hoher Anteil an sehr großen familienkontrollierten Unternehmen. Von den 100 größten deutschen Unternehmen sei fast jedes zweite unter Familienkontrolle (Porsche, VW, BMW, Miele, Oetker, Hella etc.) Hier liege eine große Konzentration von Reichtum. Das werde in Mainstream-Medien nicht thematisiert.

Firmeneigentum wird verschenkt – es fehlt die Erbschaftssteuer

Mitentscheidend für die Möglichkeit der Vermögenskonzentration sei die Art und Weise der Übertragung auf die jeweils nächste Generation, wobei die Erbschaftssteuer eine entscheidende Rolle spiele. In Deutschland könne das Vermögen fast steuerfrei mit der Begründung des Arbeitsplatz-Erhalts an die nächste Generation übergeben werden. Selten werde dabei erwähnt, wie die Struktur wirklich ist. Dazu Zahlen:

In der Summe sei die nicht eingezogene Steuer die größte Subvention. 2013 und 2014 wurde Firmeneigentum im Umfang von 100 Mrd. Euro verschenkt oder vererbt, die Einnahmen aus Erbschafts- oder Schenkungssteuer betrugen 10 Mrd. €; bei normalem Steuersatz wären 24 Mrd. fällig gewesen. Dabei falle auf, dass je kleiner die vererbten oder verschenkten Summen gewesen seien, desto höher seien die Steuersätze. Für Erbschaften zwischen 50.000 und 200.000 € (kleiner Handwerksbetrieb) betrug der effektive Steuersatz 15%; ab 20 Mio. (Betriebe mit rd. 250 Beschäftigten und mehr = „Großbetriebe“ nach EU-Standard) dagegen nur noch 7,6%. Bei Schenkungen war der Unterschied noch krasser: für 50.000 bis 200.000 wurden 7,5% fällig, ab 20 Mio. gerade mal 0,4 %. Von der Gesamtsumme, die verschenkt worden ist, entfallen 2/3 auf Betriebe von über 50 Millionen.

Fakt bleibt: Die Vermögenskonzentration wird weitergehen. Die langfristigen Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Gesellschaft zeigen sich u. a. bei den Wahlen: Je prekärer das soziale Milieu, desto geringer die Wahlbeteiligung.

Wohlstand ist für Wehinger „ein weiter Begriff“

Bei der anschließenden Podiumsdiskussion standen die Verhältnisse im Landkreis im Fokus: Wie die TeilnehmerInnen mit Armut persönlich befasst seien, ob und wie sie mit Menschen zusammenkommen, die vom sozialen Abstieg bedroht sind, wie es mit bezahlbaren Wohnraum aussieht, welche Maßnahmen gegen die Kinderarmut unternommen werden, waren die Fragen.

Jürgen Keck stellte den offiziellen Armutsbegriff (weniger als 60% des Durchschnitts-Einkommens) in Frage und definierte stattdessen für Deutschland: „Echte Armut“ sei, wenn man kein Dach über dem Kopf habe und nicht wisse, woher man sein Essen bekomme. „Und davon gibt es, Gott sei Dank, meines Erachtens nicht so viel wie in anderen Ländern … unsere Sozialsysteme funktionieren bei uns noch, Gott sei Dank. Darüber bin ich sehr froh …“. War von einem FDP-Mann anderes zu erwarten? Immerhin räumte er aber ein, dass es erschreckend sei, wie viel Grundsicherung an Menschen gezahlt werde, die ihr Leben lang gearbeitet hätten. Hier sieht er ein absolutes Defizit. Geändert werden müsste auch, dass Alleinerziehenden, die etwas hinzuverdienen möchten, dieser Betrag wieder von ihrem Hartz IV-Geld abgezogen werde. Dafür bekam er sogar Applaus von den sicher nicht FDP-affinen ZuhörerInnen.

Weitaus mehr Kopfschütteln dürfte dagegen so manche Aussage von Dorothea Wehinger hervorgerufen haben: Als frauen- und familienpolitische Sprecherin im Landtag werde sie u.a. mit Altersarmut von alleinstehenden Frauen konfrontiert, was sie sehr bedrücke. Dennoch stellte sie die Frage, was Wohlstand überhaupt sei: „Für mich ist Wohlstand ein sehr weiter Begriff – und ich bin da ein bisschen vorsichtig. Leute, die viel Geld haben, leben für mich noch lange nicht im Wohlstand. Man kann Wohlstand auch anders definieren.“ Eine eigenwillige These, wobei sie ihre Definition von Wohlstand schuldig blieb. Oder dachte sie eher an individuelles Wohlbefinden?

Auf die Frage, wie man soziale Teilhabe auch für Menschen mit geringstem Einkommen ermöglichen könne, setzt sie ganz auf das Ehrenamt und ist begeistert, wie viele Menschen sich hier engagieren: Menschen, die im sozialen Ranking und vom Bildungsniveau weiter unten stünden, engagierten sich politisch wenig. Menschen die auf einem anderen Niveau stünden, finanziell und vielleicht auch intelligenz- und bildungsmäßig, engagierten sich dagegen sehr, um diese bedürftigen Menschen zu unterstützen, damit diese dann vielleicht eine Stufe höher kommen.

Als Beispiel hob sie den Tafelladen hervor, wo Menschen ohne Arbeit wieder „Lust bekommen haben“, sich zu beteiligen und aus dieser Teilhabe wieder ein gestärktes positives Selbstwertgefühl schöpfen könnten. Letzteres ist zwar zutreffend, und Hochachtung gebührt unbestritten allen Ehrenamtlichen,ohne die es in kaum einer Kommune mehr geht. Doch stellenweise Not zu lindern, indem man Symptome abmildert, heißt leider noch lange nicht, die Ursachen wirksam zu bekämpfen…

Bezahlbare Wohnungen fehlen in Singen

Die beiden Sozialbürgermeisterinnen berichteten von ihren täglichen, nicht einfachen Aufgaben im Bereich Bildungschancen ab dem Kleinkindalter, Wohnraumbeschaffung für sozial Schwache, Obdachlosenbetreuung etc. Monika Laule sieht auch in Radolfzell die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergehen. Ute Seifried konstatiert für Singen zwar eher noch eine Stagnation, sie habe aber das Gefühl „dass wir eine sehr starke Klassengesellschaft sind. Wenn Sie mal irgendwo sind, dann sind Sie da, strampeln sich ab, kommen aber nicht raus, weil sich das System erhält …“ so ihre treffende Beschreibung.

Zur Wohnraumfrage merkte sie an, dass in Singen zwar derzeit viel gebaut werde, aber leider nicht solche Wohnungen, die für sie als Sozialbürgermeisterin vonnöten wären. Sie hoffe daher auf den Sickereffekt, dass aufgrund neuerer hochwertiger Wohnungen ältere und günstige frei werden. Bei einem Chef, der sich klar gegen sozialen Wohnungsbau ausgesprochen hat, bleibt ihr wohl auch nicht mehr als diese vage Hoffnung.

Antworten von Seiten der Politik, die die ZuhörerInnen nicht unbedingt befriedigt haben dürften. Und auch bei Fragen aus dem Publikum konnten die beiden Landtagsabgeordneten nicht punkten. Beim angesprochenen Thema von niedriger Erwerbsminderungsrente (oft noch geringer als die Grundsicherung) antwortete Dorothea Wehinger, dies sei Bundessache, aber „wehrt euch, schickt eure Anliegen nach oben …“. Kontra gab es dazu von Peter Fischer, der versprach, dass sich die Gewerkschaften wieder verstärkt für eine Rentenreform einsetzen wollen.

Auf den Punkt brachte es schließlich der 2. Bevollmächtigte der IG Metall Singen, Raoul Ulbrich: Während der Referent Michael Hartmann auf makroökonomischer Ebene beschrieben habe, wo die Fehler liegen, habe die Podiumsdiskussion sich nicht mit den Ursachen, sondern nur mit der Symptombehandlung vor Ort beschäftigt. Weshalb die Landesregierung bei der Erbschaftssteuer versagte und jetzt auch noch Lehrerstellen streichen wolle, war seine direkte Frage an Dorothea Wehinger. Deren Erwiderung, dass die Erbschaftssteuer gestoppt worden sei, „weil wir von Kleinbetrieben und Mittelständlern leben … “, wenn diese noch mehr belastet würden, würden noch mehr an die Chinesen verkaufen oder wegziehen, brachte schließlich den Referenten Michael Hartmann schier zum Platzen.

„Es geht nicht um den Handwerker, es geht um Großbetriebe“

„So ein Quatsch“, war sein Kommentar. Mit seiner jüngsten Studie (näheres dazu siehe https://oxiblog.de/legende-von-der-globalen-wirtschaftselite/) habe er nachgewiesen, dass das Argument des Wegzugs Unsinn sei. Immer reiche allein die Drohung schon aus, um Politiker rumzukriegen. Und dass man bei der Erbschaftssteuer-Debatte bewusst den Eindruck erweckt habe, es gehe um den kleinen Handwerker im Quartier, während es tatsächlich um Großbetriebe gehe, habe er in seinem Referat schon hinlänglich erklärt.

„Wissen ist Macht, aber die Landesregierung will massiv Stellen im Ganztagschulbereich einsparen“, der Mittelstand stelle Forderungen die Infrastruktur betreffend, sei aber nicht mehr bereit, sich finanziell (s. Erbschaftssteuer) an unserer Gesellschaft zu beteiligen. Ohne die Frage zu stellen, wie wir Einkommen in unserer Republik gerechter verteilen, ließen sich auch alle anderen Fragen nicht beantworten, war die Schlusskritik des GEW-Kreisvorsitzenden Klaus Mühlherr aus dem Publikum in Richtung Landesregierung.

„Eine schwierige Diskussion“, hielt abschließend Uwe Engelhardt fest. Michael Hartmanns Referat habe eine Tendenz aufgezeigt, die in kleinen Stufen immer weitergehe: nämlich, „dass die Reichen immer reicher werden und dass der Bodensatz mit vielen Menschen unten bleibt, hat sich verstetigt. Das hat Struktur und das hat System.“ Das große Problem sei, dass sich keiner richtig traue, dieses System zu durchbrechen. Es gebe immer viele Sachzwänge: für Investoren, für Wohnbaugesellschaften etc. Doch gerade beim Thema Wohnen dürfe es nicht so weitergehen „Es muss mit Mut und Entschiedenheit was anderes passieren“. Ohne Lösung des Wohnraumproblems würden auch alle anderen Reformen wie mehr Bildung etc. nicht richtig greifen. – Ein überzeugendes, ja alarmierendes Schlusswort.

Was bis zum Ende weder Veranstalter noch Podiumsteilnehmer mitbekamen: Im Saal saßen auch aktive Mitglieder der rechtsextremen Kleinpartei „Der III. Weg“. Nach der Veranstaltung verteilten sie Handzettel „Deutsche Winterhilfe 2015/16 – Obdachlosenheime statt Asylantenheime“. Noch ein alarmierendes Problem …

Uta Preimesser