Asche unter blauem Himmel (II)
Teil 2/3, Teil 1 lesen Sie hier.
Wenn ich das Tablet hebe, rasen Soldaten auf mich zu. Lärm. Schüsse. Geschrei. Plötzlich sind sie überall. Ich lasse das Tablet wieder sinken. Um mich herum strahlt die Sonne an diesem Märzmorgen über das kleine Dorf Loigny-la-Bataille in Frankreich. Ich bin mit sieben Studierenden hier auf der Suche nach Spuren des Krieges von 1870/71, des letzten der sogenannten deutschen ‘Einigungskriege’.
Ein Mahnmal aus Tettnang hat uns hergeführt und ein Hochschulverbund, der im Nachhall einer Rede des französischen Präsidenten aus dem Jahr 2017 entstanden ist. Vor dem Hintergrund der autokratisch-narzisstischen Demontage der amerikanischen Demokratie durch den Präsident gewordenen Fernsehmoderator Donald Trump meinte Emmanuel Macron damals, man solle nunmehr wieder stärker auf europäische statt transatlantische Hochschulverbünde setzen. Konstanz ist mit Universitäten aus Frankreich, Dänemark, Bulgarien und Griechenland Teil eines solchen europäischen Hochschulverbundes geworden. Wir sind ein reisendes Seminar, ein ‘travelling seminar’. Unsere Partneruniversität in Paris, die alte Achtundsechziger-Uni Paris 8, 1969 in Vincennes gegründet, ein Experiment in politischer Philosophie, wurde nach gerade mal 11 Jahren gegen den Willen ihrer Mitglieder nach Saint Denis versetzt.
Im Foyer der Universität werden gerade die Kisten einer Food-sharing-Aktion zusammengepackt. Weiter hinten suchen noch Studierende in den Kartons einer Kleiderbörse nach etwas Passendem, und mittendrin rappen zwei junge Menschen engagiert und mit politischer Botschaft, welcher, habe ich vergessen. Soziale Spannungen sind hier deutlicher fühlbar als auf dem Gießberg in Konstanz.
Arno Gisinger, ein Fotograf und Professor an der Universität Paris 8, zeigt uns ein Projekt, das er am Jüdischen Museum in Hohenems durchgeführt hat: Fotografien eines verloren gegangenen Beschneidungsstuhls in einem großen, rot beleuchteten Schwimmbecken. Ein Entwicklerbad der Geschichte, ein latentes Bild. Nomina nuda … nur die Latenz ist geblieben. Doch sie allein lässt sich kaum zeigen.
So geht es uns auch in Loigny-la-Bataille, auf halbem Wege von Paris nach Orléans gelegen. Eine der letzten großen Schlachten des Deutsch-Französischen Krieges fand hier statt. Ein Bauernsohn aus Tettnang, Roman Lanz, ist hier im Alter von 23 Jahren von einer Kugel getroffen worden und zwei Tage später verstorben. Irgendwo hier muss er begraben liegen. Vom Grab finden wir keine Spur und auch der Krieg erschließt sich dem suchenden Auge nicht: eine leere Landschaft, so weit das Auge reicht, nichts als die Zurichtung des Bodens auf die Bedürfnisse einer industrialisierten Agrarwirtschaft. Hasen allerdings laufen zwischen frisch gepflügten Ackerfurchen.
Und hie und da am Wegesrand finden wir ein Schild mit einem QR-Code. Die App, die auf dem vom Musée de la guerre 1870 geliehenen Tablets läuft, führt in eine Szene nachgestellter Geschichte: Man sieht wie durch ein Wurmloch in die Vergangenheit auf den Bildschirm des Tablets. Es zeigt die Landschaft von heute, in die dann comichafte Figuren – französische und preußische Soldaten, die aufeinander schießen – auftauchen. In sechs Stationen kann man den entscheidenden Tag dieser Schlacht, den 2. Dezember 1870, nachvollziehen. ‘Erleben’ wäre wohl zu viel und zu Unpassendes gesagt, obwohl der anderthalbstündige Gang übers Feld doch physisch ganz gut erahnen ließ, was es bedeutet haben mochte, mit 40 kg Marschgepäck und vorgestrecktem Gewehr einem Feind entgegenzulaufen.
Mir kommen Zweifel. Bringt eine solche App den Krieg näher? Oder verhüllt sie ihn eigentlich, indem sie ihn zu zeigen versucht und damit jede Stelle des historisch nicht belegten durch Bild gewordene Wahrscheinlichkeiten stopfen muss? Doch wie zeigt man einen Krieg? Wie erspürt man den Ort einer gewalttätigen Auseinandersetzung, gerade dann, wenn nichts, aber auch gar nichts als Merkzeichen geblieben ist?
Im Museum sehen wir die grauen, vulkansteinartig verklumpten Reste verbrannter Knochen. Man sagt uns, die Preußen hätten hier ihre Toten verbrannt, um den Mythos der Unbesiegbarkeit zu etablieren. Ob das stimmt?
Das Museum ist in der ehemaligen Pfarrei des Ortes untergebracht. Ihm zur Seite steht eine Kirche gebaut zum Gedenken an den Krieg. Großformatige Malereien, Fahnen und omnipräsent das Herz Jesu, das sacre coeur, dem auch die berühmte Kirche auf dem Montmartre, dem Berg der Märtyrer, in Paris als Sühnekirche geweiht ist. Unter dem Banner des sacre coeur hatte der tiefkatholische General Louis-Gaston Sonis Soldaten in die Schlacht am 2. Dezember geführt. Etwa 2000 von ihnen sind in der Krypta unter der Kirche von Loigny-la-bataille beigesetzt – unter ihnen ungefähr 60 Preußen. Charles de Gaulle und Konrad Adenauer sollen gemeinsam beschlossen haben, dass diese Knochen vermengt bleiben. Man kann sie heute noch durch ein in die Kryptawand eingelassenes Fenster sehen: Löcher in den Schädeln, tiefe Schnitte in den Hüftknochen.
Am Folgetag besuchen wir ein Seminar der kambodschanischen Professorin Soko Phay. Sie berichtet, dass unter der Bevölkerung von Kambodscha die Überzeugung verbreitet ist, dass der Körper eines gewaltsam Getöteten verbrannt werden müsse, damit dieser nicht gezwungen sei, ruhelos als Wiedergänger umherzuirren. Trotzdem gibt es Beinhäuser in Kambodscha. Und es gibt auch andere Gründe, die Knochen aufzubewahren: Sie sind Beweisstücke der Gewalt der Roten Khmer, die zur Aufarbeitung des Terrorregimes benötigt werden. Befriedung, Friede gar ist da wohl so schnell nicht zu erwarten.
Jeden Morgen schaue ich im Internet die Nachrichtenseiten zum Ukrainekrieg durch. Es legt sich wie Blei auf meine Brust. Es tut mir nicht gut und doch verspüre ich eine Art Zwang, hinzusehen, zu lesen, mich zu informieren.
Warum?
Text & Bilder: Albert Kümmel-Schnur