Asche unter blauem Himmel (III)

Teil 3/3

Wie erinnert man an einen Krieg? Können Denkmale heute noch angemessene Erinnerungsorte sein? Orte der Auseinandersetzung? Orte der Trauer? Orte aktiver Versöhnung vielleicht?

Unter dem Arc de Triomphe in Paris liegt die Leiche eines unbekannten Soldaten, der im Ersten Weltkrieg bei Verdun getötet wurde. Eine große bronzefarbene Platte, darauf eine brennende Flamme. Drumherum Absperrbänder, damit kein touristischer Fuß das Grab durch Überlaufen der Platte entwürdige. Ein Grab als nationaler Gedenkort.

Die DDR hatte den touristisch hochwirksamen Wachwechsel in preußisch anmutender Stechschrittchoreografie an Schinkels Neuer Wache unter den Linden etabliert. Im Inneren des Raums ein altarhafter Quader und eine Flamme. Auch hier politischer Totenkult mit religiösen Obertönen.

Während ich mich auf die Parisreise vorbereite, höre ich ein Interview mit einem deutschen Bundeswehroffizier, der nach dem Ort staatlichen Gedenkens an die im Einsatz getöteten deutschen Soldaten fragt. Der die Doppelmoral, Soldaten in Kriegen sterben zu lassen, aber ihren Einsatz eben nicht öffentlich würdigen zu wollen, anprangerte. Das leuchtet durchaus ein, aber wie sollte ein solcher Ort heute aussehen?

1870 stellte man in Frankreich und in Deutschland vor allem an Orten des nicht-staatlichen offiziösen Gedenkens gern Obelisken auf, säkulare, aus der viktorianischen Sepulchralkultur abgeleitete Monumente, die wenig Martialisches hatten. Trauer und Erinnerung waren vielmehr die Botschaften dieser Steine.

In der Kirche der Benediktinerabtei Königsmünster werden, eingemauert in die Wand der Klosterkirche, 12 Steine aufbewahrt: auch aus Coventry, einer aus einem Konzentrationslager, einer aus Hiroshima ist einer dabei. Stumme Zeugen einer gewaltsamen Geschichte, Teil eines sakralen Raums. Sacer, das lateinische Adjektiv, heißt heilig und verflucht zugleich.

In Paris besuchen wir auch den Shoa-Gedenkort in Drancy. Ein Gedenkstein aus rotem Granit, verwobene Körper himmelwärts strebend auf einem Plateau, hinter dem ein Gleis in gerader Linie auf einen Viehwaggon zuläuft. Der Stein, von einem Bildhauer, der den Terror überlebt hat, geschlagen, steht inmitten eines hufeisenförmigen Wohnblocks, kalte Moderne, sozialer Wohnungsbau. Hier leben Menschen, die sich nichts anderes leisten können. Nur dieses porzellanene Isolierhütchen dort an der Wand spricht eine deutlichere historische Sprache: Es handelt sich um keinen modernen Bau, sondern um ein Projekt der 1920er Jahre. Das war damals wirklich modern – in jeder Hinsicht: gebaut auf freiem Feld. In the middle of nowhere. Es ist nie fertig geworden. Anstelle von Schöner-Wohnen inhaftierten hier die Nazis jüdische Menschen, um sie in die Todeslager abzutransportieren. Ein Sammellager. Nach dem Krieg konnte man es nicht abreißen – es fehlte einfach an Wohnraum. „Wissen die heutigen Bewohner:innen um die Geschichte des Ortes?“, wollen wir von der freundlichen jungen Frau wissen, die uns durch den Gedenkort führt. „Ja“, sagt sie, „und wer kann, zieht schnell wieder aus. Die meisten können aber nicht.“

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Auf der alten Rheinbrücke sehe ich die Reste einer verbrannten ukrainischen Fahne im Wind flattern. Rechts und links daneben unzerstörte Pappschilder. Sind sie später angebracht worden? Ist die Spur einer verbrannten Fahne ein eindeutiges Zeichen? Aber: hätte ein später Vorbeikommender, der Ukraine-Schilder am selben Brückengeländer anbringt, dann nicht dieses Schandmal entfernt? Hätte diese Person ihren Protest stören lassen durch einen Antiprotest? Die Asche einer Fahne – das ist natürlich auch ein Zeichen, das die daneben hängenden „Help!“ schreienden Papptafeln verstärkt: seht her, das ist die Situation. Seht her, das ist der Appell. Hier die Zerstörung – dort der Hilferuf. Das ist zwar eine mögliche Deutung, aber ist es wirklich denkbar, dass jemand, der um Hilfe für ein Land bittet, das sich gegen einen militärischen Aggressor wehrt, die Fahne dieses Landes verbrennt, um ein Zeichen zu setzen? Wohl kaum.

Wenn man nur dieses Bild und nicht sein Zustandekommen kennt, kann man keine eindeutige Aussage treffen, nicht wissen, was richtig, was falsch ist.

Mir dröhnt der Kopf. Was macht man nun mit dem Mahnmal für die Gefallenen eines Krieges, der vor über 150 Jahren stattfand und das dennoch noch in der Lage ist, Emotionen hervorzurufen? Wie überführt man das gleichschwebende alltägliche Desinteresse an Denk- und Mahnmalen im Alltag in eine produktive und zukunftsweisende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit?

Für dieses Mal muss ich die Antwort schuldig bleiben.

Text: Albert Kümmel-Schnur, Bilder: Albert Kümmel-Schnur, Florian Schneider